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Beitrag vom 05.08.2013
Arnon Grünberg - Der jüdische Messias
Judith Wolff
Als sprachlich-literarischer Vorschlaghammer treibt der Erfolgsautor auch in diesem Roman sein Unwesen. Unsere Konventionen der "Political correctness" werden dabei perforiert und seziert, so dass...
... es den LeserInnen Lach- und Schmerzenstränen in die Augen treibt.
Auf der Suche nach dem Leid
Anders als Figuren vorheriger Romane des Autors will sich sein aktueller Protagonist Xavier Radek nicht den Gefühlen, dem Unvorhergesehen und schmerzvollen Erfahrungen des Lebens entziehen. Im Gegenteil: Der Schweizer Teenager sehnt sich nach Leid und Leidenschaft. Seine Mutter mag den in ihr flammenden Antisemitismus (noch) im Austausch für die Wahrung eines "normalen" Lebens zurückzuhalten. Xaviers Großvater aber kämpfte als ranghohes Mitglied der SS aktiv und leidenschaftlich bis in den Tod hinein für sein Feindbild. Vor diesem Hintergrund Xavier beschließt, seinen ohnehin ausgeprägten Forschungsdrang von der Chemiewissenschaft auf die SpezialistInnen des Leids zu richten – auf das jüdische Volk.
"Der Tröster der Juden"
Im Zuge seiner Mission, zum "Tröster der Juden" zu werden, wofür er nicht nur deren Leiden studieren, sondern es selbst erfahren und erlernen will, wird Xavier zum passionierten Philosemiten und lernt Awrommele kennen, den Sohn des lokalen Rabbiners. Zwischen den beiden entwickelt sich eine intensive Liebesbeziehung. Der gemeinsame Plan, "Mein Kampf" ins Jiddische zu übersetzen, wird von Xaviers Beschneidung gestört, die Awrommele organisiert und begleitet. Sie wird zu einer blutigen Initiation, bei der Xavier einen Hoden verliert, den er "König David" tauft und an den er sich in heiklen Situationen flehend wendet. Im weiteren Verlauf des gemeinsamen Lebens von Xavier und Awrommele häufen sich die biografischen Parallelen zwischen Xavier und Hitler, der stringent als "Du-weißt-schon-wer" auftritt. Nach gescheiterten Versuchen einer Künstlerkarriere entdeckt Xavier sein politisches Führertalent und bringt es zum Premierminister in Israel, der mit nuklearen Waffen handelnd bald die ganze Welt terrorisiert.
Jeder für sich – alle zusammen
Der Kosmos und dessen BewohnerInnen, in die den LeserInnen durch den Werdegang Xaviers Einblick gewährt wird, ist wunderbar ironisch überzogen, skurril aber auch traurig isoliert. Die absurden Momente der Lektüre speisen sich gerade aus der Unfähigkeit einer zwischenmenschlichen – echten - Kommunikation. Versuche, die Wendungen menschlichen Lebens zu kontrollieren, scheitern in einer schmerzhaften Dysfunktionalität. In einer kafkaesken Kommunikationsarchitektonik sind die Personen dabei in ihren eigenen sprachlichen und gedanklichen Irrgärten gefangen.
Grünberg zeigt, welche Rolle die unlösbaren Verstrickungen in weltanschaulichen Wegen und Sackgassen für die eigene Identität und den Begründungsraum unserer Handlungen spielen, die wir als kulturell und sprachlich Eingelassene niemals frei wählen können. Sie stecken die Grenzen des Sinnvollen und des moralisch Gebotenen ab. Sein Roman handelt von dieser individuellen und geteilten Welt, er stellt "jenseits von Gut und Böse" die Frage, ob es letztendlich nur darauf ankommt, ob wir uns bewusst zu unseren persönlichen Überzeugungen verhalten. Grünbergs Figuren scheitern oft an dem Balanceakt, sich dabei vor dem Wildwuchs der eigenen moralischen Vorstellungen zu schützen ohne in einen normativen Relativismus zu verfallen.
Die "Ironie der Geschichte", dass nämlich das für die eine Person moralisch Gebotene das größte Unglück des Gegenübers sein kann, ist ein Motiv, mit dem die sensible Debatte um Opfer- und TäterInnentum gestreift wird. Bei dem versöhnlichen Gedankengerüst einer Lösung des Problems "Leben" durch Selbstreflektion belässt es Grünberg demnach nicht. Leben und Handeln bleiben, so führt der "jüdische Messias" es mit einem lachenden und einem weinenden Auge vor, unberechenbar.
Die Ironie, die nie nur lustig ist, wird auch anhand der Beziehung zwischen Xavier und Awrommele deutlich. Liebt Xavier Awrommele oder liebt er sein Bild des Judentums, das er auf seinen Freund abbildet? Ist Liebe ohne Projektionen auf unser Gegenüber möglich oder ist sie vielleicht genauso fremdbestimmend wie Hass und Diskriminierung?
Im Wechsel zwischen erzeugter Identifikation mit den Handelnden und dem Umschlag in anonyme Rollenbezeichnungen wie "Mutter" oder "Jude" setzt der Autor auf die anziehend-abstoßende Wirkung von Gegensätzlichkeiten: Gekonnt werden die LeserInnen mit nüchterner Sprache zu expliziter Gewalt und körperlichen Grenzerfahrungen – fast keine Figur bleibt physisch verschont - vor den Kopf gestoßen. Bei all dem bleibt die Komik über den ganzen Handlungsstrang erhalten und schafft Atem- bzw. Lachpausen.
"Der Chemiebaukasten verhält sich zum Juden wie Porno zur Frau." Sätze wie dieser – dies ist einer der harmloseren - geben einen Hinweis darauf, warum es zehn Jahre dauerte, bis der Diogenes Verlag sich zu einer deutschen Übersetzung durchringen konnte.
AVIVA-Tipp: "Der jüdische Messias" testet nicht nur Grenzen des Anti- und Philosemitismus. Der Roman zeigt Überforderungen und Verstrickungen von Personen, deren Weltverständnisse zu privaten Höllen werden, aus denen sie nicht zu ihren Mitmenschen auszubrechen vermögen. In Slapstickmanier verschaffen die humorvollen Brechungen gerade so viel Erleichterung, dass das aufsteigende Gefühl von Verlorenheit immer wieder durch unkontrollierbare Lachmomente aufgefangen wird. Normative Vorstellungen werden dabei gekonnt verwirrt und irritiert.
Zum Autor: Arnon Grünberg wurde 1971 als Sohn exilierter jüdisch-deutscher Eltern in Amsterdam geboren. Mit siebzehn Jahren wurde er der Schule verwiesen und gründete daraufhin seinen eigenen Verlag "Kasimir". Sein Debütroman "Blauer Montag", brachte ihm internationalen Erfolg und Aufmerksamkeit ein. Neben seinen Romanen, einige sind unter dem Pseudonym Marek van der Jaagt veröffentlicht, schreibt der in New York lebende Autor auch Theaterstücke, tägliche Kolumnen und einen Blog. Darüber hinaus arbeitete er als Liebesbriefschreiber, Apothekenangestellter, Schachlehrer, Immobilienmakler, Gigolo, Kellner und Masseur. Die offizielle Website gibt einen Einblick in Grünbergs kurioses Leben und in sein umfassendes Schaffen.
Arnon Grünberg
Der jüdische Messias
Hardcover Leinen, 640 Seiten
Diogenes Verlag, erschienen im April 2013
Aus dem Niederländischen, Originaltitel: De joodse messias, Übersetzung von Rainer Kersten
ISBN: 9783257068542
Euro 24.90
http://www.diogenes.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Der Vogel ist krank" von Arnon Grünberg (2005)
"Gnadenfrist" von Arnon Grünberg (2006)
"Nur wenn ich lache", Neue jüdische Prosa (2002)
"Warum Liebe weh tut" von Eva Illouz (2011)
Weitere Informationen:
Arnon Grünbergs Website und Blog
Zu Grünbergs Verlag "Kasimir"