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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 28.05.2013


Donatella Di Pietrantonio - Meine Mutter ist ein Fluss
Claire Horst

Dieser Debutroman scheint sich einzureihen in eine Liste neuerer Bücher über Demenz – und doch steht er ganz für sich. Denn obwohl auch hier vom langsamen Verschwinden einer Persönlichkeit erzählt...




... wird, lässt sich Di Pietrantonios Text kaum vergleichen – so ungewöhnlich ist ihre Sprache.

Vom Umgang mit dem geistigen Verfall der eigenen Eltern haben schon andere geschrieben, so etwa Arno Geiger in seinem preisgekrönten Roman "Der alte König in seinem Exil" und Katharina Hacker in "Die Erdbeeren von Antons Mutter". Der Italienerin Di Pietrantonio gelingt es, einen ganz eigenen Duktus zu finden, in dem sich die Trauer über das, was war, und das, was nicht mehr ist, ausdrücken kann.

Im Zwiegespräch mit ihrer Mutter erzählt ihre Protagonistin sich selbst und der Demenzerkrankten deren Leben, ein Leben, das von harter Arbeit und Gefühllosigkeit gekennzeichnet war. Beim gemeinsamen Kochen, beim Handarbeiten oder Unkrautjäten wiederholt sie die Geschichten der Mutter, oft gehörte Geschichten über komische oder traumatische Erlebnisse, über die teilweise längst verstorbenen Geschwister, über harte Feldarbeit oder Familienfeste. Die eigenen Erinnerungen verflechten sich dabei immer wieder mit denen der Mutter, Zeiten und Orte wechseln und überschneiden sich.

Hinter der liebevollen Zuwendung, die die Erzählerin ihrer Mutter zukommen lässt, steht ein Gefühl, das sie sich nur mit Mühe eingesteht und das ihr diese Pflege sehr schwer werden lässt: die Unfähigkeit zu verzeihen. Diese noch nicht einmal sehr alte Frau, die ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen kann, die manchmal aus dem Abfalltrog für die Hunde isst oder ihren Schlüssel in den Kühlschrank legt, hat ihre Tochter nie in den Arm genommen, war schon in deren Kindheit nicht für sie erreichbar.

In der eigenen Erinnerung der Erzählerin steht die Sehnsucht nach der Zuwendung ihrer Mutter im Vordergrund, die Sehnsucht, von ihr berührt und angesehen zu werden. Dass sie ihr diesen Mangel nicht verzeihen kann, macht sie sich selbst ständig zum Vorwurf – und erzählt ihrer Mutter dennoch immer wieder deren eigene Erinnerungen, voller Liebe und mit großer Geduld. Von einem Bäuerinnenleben in den Abruzzen erzählt sie ihr, von langen Schulwegen, barfuß durch den Wald, von abwesenden Vätern, die als Gastarbeiter in Deutschland oder Österreich waren, vom Schafescheren, Wäsche im Fluss waschen und von der aufwendigen Zubereitung traditioneller Gerichte.

Eine vergangene Welt taucht dabei wieder auf, eine Welt, in der Pächterfamilien einen großen Teil ihrer Ernte an den Grundbesitzer abgeben mussten, eine Welt, in der vom geschlachteten Schwein selbst noch Ohren und Rüssel verarbeitet wurden, eine Welt, in der junge Frauen mit ihrem Geliebten durchbrennen mussten, um ihn heiraten zu dürfen.

Diese Erzählungen haben einen besonderen Geruch, einen unverwechselbaren Geschmack. Die erzählte Welt taucht vor den Augen der Mutter wie der Leserin auf und bringt etwas Licht in den Schleier, der vor der Erinnerung der Mutter liegt: "An dem Morgen, an dem das Schwein stirbt, entnimmt man alles Nötige für das Mittagessen. Das Hirn wird mit getrockneten Perperoncini und Knoblauchzehen gebraten. Es ist denen vorbehalten, die geschlachtet haben; sie essen es im Stehen als Vorspeise, während sie darauf warten am Tisch Platz zu nehmen, Derweil hängen die beiden gesäuberten Tierhälften in einem kahlen Raum und ruhen. Die Schwarte sieht jetzt aus wie frisch rasierte Haut. Die Frauen kochen Maccheroni und zum Hauptgang Cif-ciaf, ein einfaches Fleischragout mit oder ohne Tomatensauce, mit Lorbeerblättern, Peperoncino und ungeschältem Knoblauch. Der besondere Geschmack kommt von dem frisch geschlachteten Fleisch; schon nach ein bis zwei Tagen wäre der Geschmack nicht mehr derselbe. Man schmeckt offenbar noch das Leben."

Es ist eine archaische Welt, in der die Mutter ihr abgeschiedenes Leben in den Bergen gelebt hat. Die Tochter hat sich davon abgewendet. Mit ihrem Beruf als Architektin, mit ihrem Lebensgefährten und dem Sohn lebt sie ein modernes Leben. Und doch kommt sie von den Erinnerungen der Mutter nicht los, kämpft sie immer wieder um deren Zuneigung. Ihre Mutter ist ein Fluss, ein Baum, in jedem Fall unerreichbar: "Mit hohen Ästen, die ich nicht erreichen konnte. (…) Dann wuchsen die Früchte. Der Stamm war glatt, bot Händen und Füßen keinen Halt, Ich schlug mir die Knie auf, ohne je hinaufklettern zu können. (…) Meine Mutter war ein Baum. Ich hatte ihren Schatten."

Die Erzählerin findet Zuflucht in ihrer poetischen Sprache, in den Gesprächen mit ihrer Mutter, die das eigentlich Wichtige immer aussparen. Die Leserin erfährt von diesem Wesentlichen nur in den Selbstgesprächen der Erzählerin. Und obwohl ein wirklicher Austausch zwischen den beiden Frauen nicht mehr möglich ist, wächst das Verständnis zwischen ihnen, entsteht langsam die Idee des Vergebens, lässt sich auch nachverfolgen, wie aus der Angst vor dem Verlust der Mutter auch Freude darüber wird, bald keine Schatten mehr zu haben, der ein Verstecken vor dem Leben ermöglicht.

AVIVA-Tipp: Wie die Erzählungen der Tochter Orte und Zeiten wechseln, mäandert der kraftvolle Text Di Pietrantonios vor und zurück, kehrt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück, erzählt von dramatischen Ereignissen und tiefen Erschütterungen in einer zugleich poetischen und glasklaren Sprache und lässt eine unbekannte Welt vertraut erscheinen.

Zur Autorin: Donatella Di Pietrantonio wurde in Arsita, einem kleinen Dorf in den Abruzzen, geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara. Ihr Debutroman gewann kurz hintereinander mehrere renommierte italienische Literaturpreise. (Verlagsinformationen)

Donatella Di Pietrantonio
Meine Mutter ist ein Fluss

Originaltitel: Mia madre è un fiume
Ãœbersetzt von Maja Pflug
Verlag Antje Kunstmann, erschienen im März 2013
200 Seiten
16,95 Euro
ISBN 978-3-88897-817-3

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Claire Horst