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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 23.05.2013


Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen. Herausgegeben von Felicitas Heimann-Jelinek und Bernhard Purin
Madeleine Jeschke

Der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 18. Oktober 2013 bis 9. Februar 2014 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen war, befasst sich mit Form und Herkunft jüdischer Übergangsriten und...




... Passagen, sowie mit deren individuellen und kollektiven Bedeutung gegen das Vergessen.

Dem gegenüber stehen die Fotografien der New Yorker Künstlerin Quintan Ana Wikswo, die aus ihrer persönlichen Perspektive tabuisierte Geschichte darstellt und neue Strategien der Erinnerung aufzeigt.

"Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: / eine Zeit zum Gebären / eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, / eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen,/ eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen, [...]" heißt es im Tenach, Kohelet 3,1-8, der laut Kuratorin Felicitas Heimann-Jelinek den Impuls zur Ausstellung gab und an den sich der erste Teil des Titels "Alles hat seine Zeit" anlehnt. Heimann-Jelinek interpretiert diese Zeilen wie auch der britischen Rabbiner Jonathan Magonet als "ein Ringen mit der Zeit, um einen Sinn aus ´endlosen Kreisläufen und Wiederholungen´ ziehen zu können".

"Rituale helfen, den Wiederholungen einen Sinn zu geben."

Sie halten den Moment des Übergangs von einer Zeit in die nächste fest und wirken dem Vergessen entgegen. Teil der Erinnerung sind Kult- oder Gebrauchsgegenstände, die Rituale seit Tausenden von Jahren begleiten. Das Konzept der Ausstellung war es, diese der jeweils prägenden Zeit thematisch zuzuordnen und sie unter dem Titel "Erinnerung an" einzuführen. Die rund sechzig dargestellten Exponate aus öffentlichen und privaten Sammlungen entstammen hauptsächlich dem süddeutschen Raum aus der Zeit zwischen dem18. bis 20. Jahrhundert. Insgesamt gibt es fünfzehn Themenbereiche, welche sich kapitelweise auch im Katalog wiederfinden und im Begleittext erläutert werden. So wird im Kapitel "Erinnerung an das Leben" eine Beschneidungsbank aus dem 19. Jahrhundert oder ein Kiddusch Becher von ca. 1790, als "Erinnerung an die Liebe" gezeigt. Es finden aber auch Objekte aus dem 21. Jahrhundert Eingang in die Ausstellung, wie ein Kidduschband aus dem Jahr 2012 als "Erinnerung an die Endlichkeit".

Neben individuellen Übergangsriten werden auch kollektiv ritualisierte Passagen im religiösen wie im säkularen Bereich präsentiert. Zyklische Feiertage wie Pessach, Chanukka oder Sukkot erinnern an Begebenheiten, die schicksalhaft für die Gemeinschaft waren. Die dazu gehörigen, in der jüdischen Liturgie verwendeten Objekte, wie die Pessach Haggada, ein Chanukka Leuchter oder eine Sukka werden in den Kapiteln: "Erinnerung an die Befreiung", "Erinnerung an den Sieg" und "Erinnerung an die Wanderung" behandelt.

In den Bereich kollektive säkulare Rituale fällt "Erinnerung an das Vaterland", ein Thema, das nach Aussage der Kuratorin Eingang in diese Ausstellung finden musste, da es direkt mit der Geschichte der Juden und Jüdinnen in Deutschland und die des Antisemitismus geknüpft ist. Hier wird eine Vielzahl von Objekten gezeigt, die die Verbundenheit der jüdischen Gemeinschaft mit ihrer Heimat verbildlichen und somit auf ihre nationale Identität verweisen. Dafür steht unter anderem eine Urkunde von 1871 über eine Verleihung des "Verdienstkreuzes für Frauen und Jungfrauen", denn während des Krieges schlossen sich viele jüdische Frauen den von Kaiserin Augusta 1866 ins Leben gerufenen Vaterländischen Frauenvereinen an.

Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München, zufolge, ist eine neue ritualisierte Form der Erinnerung die an den Nationalsozialismus und an die Shoah, in der jedoch ebenfalls Strategien des Vergessens zu beobachten sind. Besonders die Opfergruppe der sexuell ausgebeuteten Frauen in den Konzentrationslagern in diesen öffentlichen Erinnerungsritualen wurden lange Zeit ausgeblendet. Die transdisziplinär arbeitende New Yorker Künstlerin Quintan Ana Wikswo schaffte sich, als Frau der dritten Generation Holocaustüberlebender, eine eigene Strategie gegen das Vergessen. In vierzehn großformatigen Arbeiten erfasst sie fotografisch und literarisch zugleich das Nicht-Dokumentierte des sogenannten "Sonderbaus" in Dachau und thematisiert so Zwangsprostitution in den KZ-Bordellen. Sie nahm die Fotos mit einer Filmkamera auf, die Frauen, die nicht für das Vergewaltigungsbordell ausgesucht wurden, im Agfa-Außenlager als Zwangsarbeiterinnen herstellten. Die poetischen Texte, die ihre Bilder begleiten, sind Zitate aus Interviews, die Wikswo mit überlebenden Frauen des KZs geführt hat, an die heute nichts mehr auf dem Gelände erinnert. Dabei wollte sie keine Fotografien des Grauens oder des Voyeurismus kreieren, sondern Bilder "die dazu einladen einen anderen, eher nach innen gerichteten Ort der Reflexion und Meditation zu betreten."

AVIVA-Tipp: Die Ausstellung und der gleichnamige Bildband "Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen" zeigt nicht nur Bedeutung von Erinnerungskultur für eine Gesellschaft, sie wirft auch Fragen auf. Wer entscheidet, was erinnerungswürdig ist? Besonders die Künstlerin Quintan Ana Wikswo nahm sich eindrucksvoll dem Tabu des Erinnerns an genderspezifische Verbrechen während des Holocaust an, indem sie einen Weg fand, das Ausgelöschte wieder in das kollektive Gedächtnis zu rücken.

Zur Herausgeberin und Autorin: Felicitas Heimann-Jelinek, Kuratorin der Ausstellung: "Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen." Sie studierte Judaistik und Kunstgeschichte in Wien und Jerusalem Chef-Kuratorin am Jüdischen Museum der Stadt Wien (1993-2011). Heute arbeitet sie als freiberufliche Kuratorin und lehrt jüdische Kunstgeschichte.

Zum Herausgeber: Bernhard Purin studierte Empirische Kulturwissenschaft und Neuere Geschichte in Tübingen. 1996-2003 leitete er das Jüdische Museum Franken in Fürth. Seit 2003 ist er Direktor des Jüdischen Museums München.

Zur Künstlerin: Quintan Ana Wikswo ist eine transdisziplinär, genreüberschreitend arbeitende Künstlerin an den Schnittstellen visueller Kunst, Literatur, Film und Performance. Künstlerisch wie intellektuell befasst sie sich mit Gender, Sexualität, Macht und Kontrolle. Ihre prämierten Projekte wurden bereits in renommierten Institutionen und Museen in den USA und Europa ausgestellt. 2013 hat Wikswo noch zwei weitere Solo Ausstellungen: Museum of Modern Art Ceret, Frankreich (01-30.August 2013) und im Jüdischen Museum Berlin (1. Oktober 2013-15. Januar 2014).
Mehr Infos unter: www.quintanwikswo.com

Wegen des großen Erfolgs im Jüdischen Museum München, wo die Ausstellung vom 27.02.2013-01.09.2013 zu sehen war, kam sie ab Herbst auch nach Berlin.

Informationen zur Ausstellung (18. Oktober 2013 bis 9. Februar 2014) im Jüdischen Museum Berlin finden Sie unter

www.jmberlin.de

Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen
Felicitas Heimann-Jelinek Bernhard Purin, [HG./ EDS]

Kehrer Verlag, erschienen 2013
Festeinband, 188 Seiten, 78 Farbabbildungen
Deutsch/Englisch
ISBN 978-3-86828-399-0
36,00 Euro



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Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern

Robert Sommer - Das KZ-Bordell - Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern


(Quellen: Kehrer Verlag, Homepage von Quintan Ana Wikswo)



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Beitrag vom 23.05.2013

AVIVA-Redaktion