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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 15.01.2013


Ursula Krechel - Landgericht
Anke Gimbal

Die für dieses Buch mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Autorin schreibt über Dr. Richard Kornitzer, geboren 1903 in Breslau, Jurastudium und 1926 Promotion in Berlin, Richter an der ...




... Patent- und Urheberrechtskammer des Landgerichts I in Berlin, 1933 entlassen als "Volljude", 1939 emigriert nach Kuba, 1948 zurückgekehrt auf Betreiben seiner nichtjüdischen Ehefrau, 1949 Vereidigung als Richter am Landgericht Mainz.

Es ist ein Roman, aber er beruht auf Fakten und die sind gründlich recherchiert. Die Romanfiguren basieren auf realen Personen mit Namen und Biografien. Die Autorin hat sorgfältig die Akten eines Mainzer Richters studiert und auch die jeweiligen Zeiträume, Örtlichkeiten, die politischen Verhältnisse, die Justiz, die Rechtslage und sonstige Umstände.

Kornitzers Lebens ist dreigeteilt: ein Leben vor dem Krieg (Breslau/Berlin), eines in der Emigration (Kuba) und das in der Bundesrepublik (Lindau/Mainz). Das Buch befasst sich mit allen drei Teilen gleichermaßen. In Breslau und zunächst auch in Berlin war Kornitzers Leben noch in Ordnung, bis sein Alltag durch die Nationalsozialisten belastender wurde. Die Stimmung am Landgericht wurde zunehmend feindselig, bis er schließlich aufgrund von § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand versetzt wurde. Er war der einzige Jude unter den Kollegen gewesen und "hatte keine Solidarität, keinen Rat von niemandem zu erwarten" (S. 44). Ein gläubiger Jude war er nicht, er sah sich als "Jude von Hitlers Gnaden" (S. 44). Doch die Taufe nützte ihm nichts, eher schon das von seiner Mutter geerbte Vermögen, ohne das er weder das Visum noch den mehrjährigen Aufenthalt in Kuba hätte finanzieren können. Es gelang ihm jedoch nach Ausbruch des Krieges nicht mehr, seine Ehefrau Claire nachzuholen. Die beiden Kinder – Georg, geb. 1932 und Selma, geb. 1935 – waren schon vor Kornitzers Abreise nach Kuba mit Hilfe der jüdischen Hilfsorganisationen nach England in Sicherheit gebracht worden. Das setzte sowohl den Eltern als auch den Kindern zu, die zu klein waren, um den Grund für die Trennung zu verstehen, sich verlassen fühlten und verstört waren.

Kornitzer versuchte, sich in Kuba eine neue Existenz aufzubauen. Er ging eine neue Beziehung ein, die jedoch scheiterte, weil er bereits verheiratet war. Die Mutter gab die gemeinsame Tochter Amanda weg, da sie sie als unverheiratete Lehrerin in Kuba nicht aufziehen konnte. Kornitzer traf Amanda erst viele Jahre später in Deutschland das erste Mal. Währenddessen litt seine Ehefrau in Deutschland unter der Verfolgung durch die Gestapo, die NachbarInnen und sonstige Nazis. Sie wollte sich von ihren Ehemann nicht scheiden lassen und verlor nicht nur ihr Unternehmen und ihr Geld, sondern wurde auch physisch von der Gestapo gefoltert. Der Kontakt zu den Kindern brach ebenso wie der zum Ehemann ab. Erst nach Kriegsende gelang es Claire Kornitzer, erst den Mann, dann die Kinder wiederzufinden und – jedenfalls den Mann – nach Deutschland zurückzuholen.

Dann hätte alles gut werden können, aber so war es leider nicht. Was allerdings wenig überraschend ist, denn die Eheleute waren jahrelang getrennt und litten in ihren jeweiligen völlig verschiedenen Leben alleine. Die Kinder hatten nach schweren Zeiten und Pflegeverhältnissen ein neues Leben in England aufgebaut und wollten nicht zurück zu den ihnen nun völlig fremden Eltern in Deutschland.

Um als Richter wiedereingestellt zu werden, musste Kornitzer verschiedene Hürden überwinden. Zum Beispiel wurde ihm zunächst einmal "die nationalsozialistische Maßnahme der Ausbürgerung entgegengehalten", "dazu auch das Fehlen freier Positionen, obwohl sich in zahlreichen auch leitenden Positionen frühere Nationalsozialisten" befanden (S. 36). Schließlich und endlich wurde er wieder eingebürgert und erhielt eine Stelle am Landgericht im zu 75 Prozent zerstörten Mainz. Dort gab es keine Wohnung für ihn, nur ein kleines Zimmer, so dass Claire erst einmal in Lindau bleiben musste, wohin sie während des Krieges geraten war und auch eine Arbeit gefunden hatte. Die weitere räumliche Trennung trug nicht dazu bei, dass sich der emotionale Abstand zwischen den beiden verringerte. Claire Kornitzer war schon durch die Kriegsjahre krank, Richard Kornitzer wurde krank durch die Umstände und auch durch die Wiedergutmachungsverfahren, die diesen Namen nicht verdienen. 1957 wurde er in den Ruhestand versetzt; 1970 starb er.

AVIVA-Tipp: Kein Krieg, kein Bombenkeller, kein Konzentrationslager, also ein glücklicher Mensch? Die Gleichung geht nicht auf. Kornitzer überlebte, aber sein Leben, seine Familie zerbrach. Die erbärmlichen deutschen Entschädigungsverfahren und die Theorie und Praxis der Entnazifizierungsverfahren trugen zu seiner weiteren Demütigung bei. Er musste mit ansehen, wie die ehemaligen Täter(-kollegInnen) ihre Leben meist ungebrochen, mit vergleichsweise kleinen Nachteilen, wenn sie denn überhaupt welche hatten, fortsetzen konnten. "Landgericht" ist kein amüsantes, sondern ein anstrengendes Buch, das der Leserin und dem Leser vor Augen führt, wie mit den nach Deutschland zurückgekehrten Überlebenden der Shoah umgegangen wurde. Schaut mensch auf die bis heute anhaltenden Diskussionen über die Ghettorenten, hat sich daran im Übrigen nicht viel geändert.

Zur Autorin: Ursula Krechel, geb. 1947 in Trier, lebt heute in Berlin. Sie ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und seit 2012 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. "Landgericht" ist ihr dritter Roman. Der erste, "Zweite Natur. Szenen eines Romans", erschien 1981. Ihr Buch "Shanghai fern von wo" wurde 2008 ebenfalls von Jung und Jung in Salzburg und Wien publiziert. Krechel wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, so erhielt sie am 8. Oktober 2012 zum Auftakt der Buchmesse für "Landgericht" den Deutschen Buchpreis, der jährlich vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben wird. Mehr Infos unter: www.deutscher-buchpreis.de

Ursula Krechel
Landgericht

Jung und Jung Verlag, Salzburg, erschienen 21.8.2012
496 Seiten, gebunden
Euro 29,90 / Sfr 38,90
ISBN 978-3-99027-024-0, ebook: 978-3-99027-100-1
jungundjung.at

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Beitrag vom 15.01.2013

AVIVA-Redaktion