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Beitrag vom 13.09.2012
Sigrid Combüchen – Was übrig bleibt. Ein Damenroman
Dana Strohscheer
Eine Autorin kommt in ihrem eigenen Roman vor und tritt mit einer Leserin in einen fiktiven Briefwechsel. Gleichzeitig lässt die Schriftstellerin die Leserin in dem Irrglauben, selbst in dem...
... altem Familienhaus zu wohnen, wo eben jene Leserin groß geworden.
Was sich nach einem literarischen Durcheinander anhört, wird zu einer spannenden Lektüre. Die schwedische Autorin Sigrid Combüchen bedient sich dieser Kunstgriffe in ihrem neuen Roman.
Wechselspiel zwischen Autorin und fiktiver Leserin
Die Leserin ist Hedwig Langmark, genannt "Hedda", die inzwischen gemeinsam mit ihrem Ehemann als Rentnerin ein mehr oder weniger zufriedenes Dasein in der spanischen Sonne genießt. Eine Bekannte schenkt ihr ein Buch von der Autorin Sigrid Combüchen. Darin ist ein Familienfoto zu sehen, auf dem sich Hedda wiedererkennt.
Daraufhin schreibt sie der Autorin einen Brief, um die genaueren Umstände zu erfahren, unter denen die Schriftstellerin in den Besitz dieses Fotos gelangt ist. Da Hedda in diesem Brief auch erzählt, dass sie in dem Haus aufgewachsen ist, gibt sich die Autorin in einem spontanen Einfall als dessen neue Bewohnerin aus – obwohl sie das Foto in einem Trödelladen erworben hat. Richtig ist nämlich, dass die Schriftstellerin im selben Ort wohnt, im schwedischen Lund, jedoch in einer anderen Gegend. Was anfangs nur schriftstellerische Neugier ist, entwickelt sich im Laufe des Briefwechsels zwischen den beiden Frauen zu einem enger werdenden Geflecht aus Halbwahrheiten seitens der Autorin und Erinnerungen von Hedda.
Heddas Leben
Gleichzeitig baut sich für die LeserInnen die Familiengeschichte der jungen Hedda auf, angefangen in den 1920er Jahren in Schweden. Als mittlere Schwester von drei Brüdern in einer bürgerlichen Haushalt geboren, wird bereits früh deutlich, dass Hedda außerordentlich intelligent und zielstrebig ist. Jedoch bleiben ihr auf Grund der Zeit, in der sie groß wird, nur wenig Möglichkeiten: Der große Bruder wird zum Arztstudium geschickt, der mittlere Bruder versucht sich als Künstler und Hedda ist dazu ausersehen, bis zu einer baldigen Heirat der Mutter im Haushalt zur Hand zu gehen und sich um den kranken jüngeren Bruder zu kümmern. Doch die junge Frau begehrt auf, will selbst studieren und in die große weite Welt. Am Ende wird ihr nach langen, heftigen Auseinandersetzungen mit dem patriarchalischen Vater und der klammernden Mutter als kleinstes Zugeständnis eine Ausbildung zur Näherin gestattet. Immerhin in Stockholm, aber trotzdem eben nicht ein Medizinstudium, weil das für eine junge Frau damals "nicht schicklich" war.
Der Roman zeigt deutlich, wie schwer es für junge Frauen war, eine eigene Bildung jenseits der üblichen Konventionen zu erlangen und wie sehr von familiärer Seite Druck ausgeübt wurde. So ist es nicht nur der einnehmende Vater, dem die Ideen der Tochter missfallen, vielmehr versucht auch die Mutter ihre Tochter mittels Manipulation vom eigenen Weg abzuhalten. So schreibt sie in einem Brief: "Denk über Deine Pläne nach, meine kleine Hedda. Es ist nicht oft vorgekommen, dass die Familie so sehr darauf angewiesen war, sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen, und bei früheren Gelegenheiten bist Du trotz allem verschont geblieben."
Die einzelnen Geschichten erzählt Combüchen nicht chronologisch, vielmehr erschließt sich der Lebensweg Heddas erst nach und nach aus dem Briefwechsel mit der Autorin. Nebenbei ist das Buch auch ein geschichtlich-soziologischer Abriss über die schwedische Gesellschaft in den 1930er Jahren – wie sehr beispielsweise der Zweite Weltkrieg auch die Grundfesten der schwedischen bürgerlichen Demokratie erschütterte und wie das eigentlich "neutrale" Schweden in den Sog der Geschichte geriet.
Verweben von Erzählsträngen
Die Autorin greift immer wieder kommentierend in das Geschehen ein, indem sie ihre eigenen Recherchen zu der Familiengeschichte geschickt mit den tatsächlichen neuen HausbesitzerInnen verknüpft. So wird das Haus von einer "neubürgerlichen", gut situierten Familie bewohnt, die allerdings kaum Interesse an der Historie des Hauses und dessen vorherigen BewohnerInnen hat. Vielmehr erzählt Combüchen hier ganz nebenbei die Geschichte einer Gentrifizierung von ehemals baufälligen Wohnvierteln und den Einzug neuer Geschmäcker und Gewohnheiten, wo von der alten Substanz des Viertels am Ende nicht viel übrig bleibt.
Ein Schwachpunkt des Romans ist allerdings, dass er sehr viel auf einmal will. Combüchen verwebt zwar auf postmoderne Weise unterschiedliche Stilmittel, Themen und literarische Formen miteinander – etwa wenn sich selbst kommentierend als handelnde Person einbringt - ein paar Seiten weniger hätten der Erzählung dennoch gut getan.
Ein "Damenroman"?
Dabei ist der Untertitel "Ein Damenroman durchaus ironisch zu verstehen, denn eine romantische Erzählungen über Irrungen und Wirrungen in der Liebe und dem Leben ist er nun ganz und gar nicht. Vielmehr unterwandert die Autorin Combüchen immer wieder die Erwartungen an eine stringente Erzählung. So ist auch Hedda keineswegs eine durch und durch positive Figur, auch sie ist von Vorurteilen und Zynismus geprägt. Dies wird auch in der teilweise drastischen Wortwahl und dem eigenwilligen Duktus ihrer Briefe deutlich – gerade was die eigene Rolle in den familiären Ereignissen angeht.
AVIVA-Tipp: Ein etwas schwieriger Roman, der durch die unterschiedlichen Handlungsebenen ein wenig Zeit braucht, um für sich einzunehmen. Doch wenn mensch sich eingelesen hat, entwickelt sich ein spannendes Bild über die Fragen, die auch heute noch Frauen bewegen: Wie schaffe ich es, mich den gesellschaftlichen und familiären Erwartungen entgegenzustellen, ohne mich dabei selbst aufzugeben? Diese Fragen haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Zur Autorin: Sigrid Combüchen wurde 1942 in Solingen geboren und lebt in Lund. Der literarische Durchbruch gelang ihr 1988 mit dem biografischen Roman "Byron". Seit 2003 betreut sie angehende SchriftstellerInnen an der Universität Lund. 2004 erhielt sie den "Selma-Lagerlöf-Preis" und 2010 den wichtigsten schwedischen Literaturpreis, den "August-Preis", für ihren vorliegenden Roman "Was am Ende übrig bleibt". Combüchen schreibt für die schwedischen Tageszeitungen und "Expressen". (Quelle: Verlagsinformationen)
Sigrid Combüchen
Was übrig bleibt. Ein Damenroman
Verlag Antje Kunstmann, erschienen 2012
Gebunden, 448 Seiten
ISBN 13: 978-3888977473
24,95 Euro
www.kunstmann.de
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