Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg…und was wir dagegen tun müssen, von Kathrin Fischer. Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft, von Kathrin Hartmann - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 03.08.2012


Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg…und was wir dagegen tun müssen, von Kathrin Fischer. Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft, von Kathrin Hartmann
Katarina Wagner

Deutschland scheint es gut zu gehen: die Arbeitslosenquote sinkt, die Wirtschaft wächst – aber auch die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert sich, während die Mittelschicht schrumpft und...




... immer weniger Menschen von ihrer Arbeit leben können. In genauen Analysen beschreiben die zwei Autorinnen, wie hierzulande und weltweit nach dem neoliberalen Motto "Jeder Mensch ist seines Glückes Schmied" die soziale Verantwortung der Armutsbekämpfung auf den Einzelnen abgegeben wird und wie einige wenige davon profitieren.

Kathrin Fischer – Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg…und was wir dagegen tun müssen



Laminat ist für Kathrin Fischer das Symbol für imitierten Wohlstand. Einen Wohlstand, in dem sie aufgewachsen ist, ihn selbst aber nicht erreichen wird. Sie ist in ihren Vierzigern, hat studiert, ist gut verdienende Rundfunk-Journalistin (mittlerweile Öffentlichkeitsreferentin in der Universität Frankfurt) und sieht sich selbst als Teil der intellektuellen Elite. Warum muss sie dann in einer Mietwohnung ohne Parkett leben, wenn sich die Generation ihrer Eltern vom Gehalt noch ein Haus leisten konnte? Die eigenen Abstiegsängste nimmt zum Anlass, nachzuforschen, was sich genau in Deutschland verändert hat, warum immer weniger Menschen von Wohlstand profitieren.

Sie stellt drei "bröckelnde Eckpfeiler" vor: Arbeit, Staat und Familie. Für den ersten lässt sich die weitreichende Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses beobachten.
Dieses sollte als einzige Versorgungsquelle ein existenzsicherndes Einkommen schaffen, unbefristet, tariflich und rechtlich abgesichert sein, in Vollzeit verrichtet werden und eine kontinuierliche Erwerbsbiografie bilden.
Musterbeispiele gab es dafür im Wohlfahrtsstaat nach John Maynard Keynes, in deutscher Version von Ludwig Erhard als soziale Marktwirtschaft ausgeführt. Die konnte in Deutschland zwar die Ungleichheit der Klassen nicht aufheben, hat die gesamte Gesellschaft aber jeweils "eine Etage höher" auf der Reichtumsskala gehoben – in der "Generation Laminat" fahren hingegen einige im Fahrstuhl nach oben, andere immer weiter nach unten.

Was Fischer nicht erwähnt ist, dass sich das Keynesianische Wirtschaftsmodell essentiell auf die arbeitsgeteilte Kernfamilie verlässt, wobei die Frauen die Haus-, Kinder- und Fürsorgearbeit übernehmen und den erwerbstätigen Männern ´den Rücken frei halten´. Bis heute werden Frauen in die Rolle der Zuverdienerin gedrängt.

Die Autorin fordert zwar keine Rückkehr zum alten Prinzip, trotzdem ist es wichtig, zu verstehen, dass in der "Haus und Parkett – Generation" die Frauen mehrheitlich an eben diese gebunden waren.

Die Journalistin hält sich eher an die Zahlen und Statistiken über die Entwicklung der Wirtschaft und Arbeits- und Steuergesetzgebung. Dabei stellt sie unter anderem fest, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland seit den Neunzigern stärker auseinander gegangen ist als in anderen OECD-Staaten. Die Reallöhne sind zudem nicht, wie in den meisten Ländern, entsprechend der wachsenden Wirtschaftsleistung gestiegen, sondern seit 2000 um 4,5 Prozent geschrumpft. Das hat zur Folge, dass die Mittelschicht nicht mehr, wie in den Achtzigern, 64 Prozent der Bevölkerung umfasst, sondern 59 Prozent (2009).

Ihre Angst, abzusteigen, ist also berechtigt. Fischer diagnostiziert für ihre `Leidgenossen` einen ständig wachsenden Selbstoptimierungsdruck, stets müssen sie flexibel sein und sich anpassen sonst "steht schon der Nächste vor der Tür."

Genauso wie Kathrin Hartmann stellt auch Kathrin Fischer die zunehmende Verachtung der Mittel- und Oberschicht gegenüber den NiedrigverdienerInnen und Arbeitslosen fest, wobei sich die mittlere Schicht lieber nach oben orientiert, anstatt sich nach unten zu solidarisieren. Das führt dazu, dass ein großer Teil der Bevölkerung eine Politik akzeptiert und mitträgt, die letztendlich ihnen selbst, den ArbeitnehmerInnen, immer mehr Last aufträgt, um die Unternehmen und das Wachstum zu fördern.

Beide Autorinnen kommen nicht umhin, die himmelschreiende Nachlässigkeit in der Verfolgung von Steuerhinterziehung anzuklagen. Gerade mal 15 Prozent der Einkunftsmillionäre werden jährlich kontrolliert, obwohl jede Prüfung durchschnittlich 135.000 Euro einbringt. Problematisch ist, dass die Kontrollen für die Länder Kosten bedeuten, wobei das Einkommen in die Bundeskasse fließt. Zusätzlich ist eine Region, die öfter mal die Augen zudrückt, ein attraktiver Unternehmensstandort – die Prüfungsmotivation ist entsprechend gering.

Währenddessen verbreitet sich ein Gefühl der Ohnmacht in der Bevölkerung, die auch Fischer in ihrem Umfeld beobachtet. Zunehmende Unsicherheit, Vertrauens- und Loyalitätsverlust gegenüber den ArbeitgeberInnen und weniger Glauben an feste soziale Beziehungen, führen zu Depressionen und Zukunftpessimismus.

Dagegen stellt Kathrin Fischer ihre "Weltrettungsanleitung in fünf Punkten" vor:
"1.Das Gefühl, das man so nicht leben will, ernst nehmen. 2. Sich schlau machen. 3. Anders handeln. 4. Politische Forderungen entwickeln. 5. Politisch Handeln"

AVIVA-Fazit: Auf der Suche nach der Ursache hinter der prekären Lage der Generation Laminat verfolgt Kathrin Fischer in Abrissen die Entwicklung der Weltwirtschaft seit dem Zusammenbruch des Abkommens von Bretton Woods und die Veränderungen in der Arbeits- und Steuergesetzgebung Deutschlands. Dabei macht sie genaue Beobachtungen über das Lebensgefühl ihrer Generation und zitiert haarsträubende Zahlen und Fakten. Die Ich-Perspektive wird hingegen nicht bei allen LeserInnen die Identifikation mit der Protagonistin Fischer fördern – vielleicht hätte sie nicht erwähnen sollen, dass sie als Kind ein Pferd hatte. So wirkt es leider doch, trotz der Realität des Problems, oft als Jammern auf hohem Niveau.

Zur Autorin: Kathrin Fischer wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Russisch in Marburg und Moskau. Fünfzehn Jahre lang arbeitete sie als Redakteurin und Moderatorin beim Hessischen Rundfunk, bis ihr eine Stelle als Öffentlichkeitsreferentin in der Universität Flensburg angeboten wurde, wo sie nun mit ihrem Sohn und festem Einkommen lebt.

Generation Laminat. Mit uns beginnt der Abstieg…und was wir dagegen tun müssen
Kathrin Fischer
Klappenbroschur, 288 Seiten
Knaus Verlag, München
16,99 Euro
ISBN: 978-3-8135-0458-3

Kathrin Hartmann – Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft.



Die Münchener Journalistin erzählt nicht von sich selbst, sondern beschreibt in spannenden Reportagen die Situation derer, denen es wirklich schlecht, oder wirklich gut geht. Ihre Analysen machen immer wieder deutlich, "gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut". Hartmann deckt in angenehm und angebracht wütendem Ton die Strategien auf, mit denen die Politik die Verantwortung für die Armutsbekämpfung an die Betroffenen selbst oder an die Privatwirtschaft abgibt – wobei Letztere sie dankend annimmt und ein imagepolierendes Geschäft daraus macht.

Die Autorin lässt dabei nicht nur ExpertInnen zu Wort kommen, sondern auch die sonst oft ignorierten und pauschalisierten Menschen der so genannten Unterschicht. Anhand von ihren Lebensgeschichten wird klar, dass der Abstieg in die Armut auch gut qualifizierte ArbeitnehmerInnen treffen kann und sie teilweise zwingt, sich in die Schlange der örtlichen Tafel einzureihen.
So etwa die ausgebildete Ärztin Elisabeth Müller (Name geändert), die ihren Beruf aufgegeben hat, um sich um die Kinder zu kümmern, als deren Vater sie verließ – ohne Unterhalt zu zahlen.

Die Lebensmittelspenden der Supermärkte über die Tafeln helfen ihr jetzt. Eine Lösung des Armut-Problems in Deutschland bieten sie jedoch nicht. Vielmehr, so stellt Hartmann fest, hat sich das System so weit etabliert, dass die Politik eher das Engagement lobt und fördert, anstatt die eigene Aufgabe der Armutsbekämpfung durch staatliche Mittel der Umverteilung anzugehen.

Auch die riesige Nahrungsmittel-Überproduktion wird nicht aufgewogen: nur etwa 130.000 Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jährlich verteilt, 20 Millionen Tonnen landen weiterhin im Müll. Das Prinzip der Tafeln verlässt sich auf die riesige Nahrungsmittel-Überproduktion, die nicht nur allein durch seine "Abfälle" alle Hungernden der Welt dreimal ernähren könnte, sondern zusätzlich auf der Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen in Entwicklungsländern basiert.

So profitieren Supermarktketten durch Imagepolierung und die Politik durch Abgabe der Verantwortung – durch 1-Euro-Jobs bei der Tafel sinkt zusätzlich die Arbeitslosenquote – und den Armen bleibt nichts weiter übrig, als das Angebot anzunehmen und sich beschämt für das Essen anzustellen, das für andere nicht gut genug war.

Arbeitslosigkeit bedeutet auch wegen der Stigmatisierung großen Stress für die Betroffenen. Hartmann schildert, wie Schuldzuweisungen und Ressentiments gegenüber Armen jede Gesellschaftsschicht durchdringt. Das führt unter anderem zu einer schlechten Verhandlungsposition für ArbeitnehmerInnen, lieber wird das prekäre Arbeitsverhältnis in Kauf genommen, als eine Kündigung zu riskieren.
Dabei belegen Studien, dass das weit verbreitete Vorurteil der `faulen Unterschicht´ unbegründet ist. Arbeitslose besitzen sogar eine höhere Motivation als die restliche Bevölkerung, gehen zudem oft einer nützlichen Tätigkeit nach – von Kindererziehung bis zu Ehrenämtern – und wären außerdem bereit, eine Stelle unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen.

Unter anderem hat die Senkung der Zumutbarkeitsschwelle bei Einführung der Hartz-Gesetze, zusammen mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, 1-Euro-Jobs und dem Ausbau der Zeitarbeitsbranche, die Lage der ArbeitnehmerInnen nicht nur erheblich verschlechtert, sondern erschwert außerdem den Ausstieg aus der Armut.

Wichtig zu verstehen ist, dass es sich hier um relative Armut im Vergleich zum sozialen Umfeld handelt. Wenn Armut einem Menschen Teilhabe und Anerkennung in der Konsumgesellschaft verwehrt, ihn stigmatisiert, kann dieser Lebenszustand die Betroffenen sehr schwer belasten.

Um absolute Armut geht es in den letzten Kapitel. Hartmann ist nach Bangladesch gereist, um die GewinnerInnen und VerliererInnen der Mikrokredit-Industrie zu (be)suchen. Der Banker Muhammad Yunus hatte für seine Idee, kleine Kredite an arme Menschen zu verteilen, den Friedensnobelpreis erhalten.
Gefunden hat die Autorin vor allem verschuldete Menschen, die über brutale Geldeintreiber klagten und oft ihren letzten Besitz verkaufen oder einen zusätzlichen Kredit aufnehmen mussten, um den Ersten plus Zinsen zurück zu zahlen.
Nur etwa fünf Prozent der Mikrokredit-NehmerInnen können sich aus der Armut befreien. Nachdem der Mikrofinanzmarkt 2010 in eine schwere Krise geriet, nahmen sich 54 hochverschuldete KreditnehmerInnen das Leben.
Der Mikrokreditkritiker Thomas Dichter bringt es auf den Punkt: "Niemand von uns möchte Schulden haben. Warum also denken wir, ausgerechnet Arme hätten lieber Schulden als wir?" Außerdem beruht das System auf einem unternehmerischen Prinzip, das in einem armen Umfeld nicht fruchten kann: auch wenn sich eine Frau oder ein Mann ein kleines Geschäft aufbaut, fehlen die kaufkräftigen KundInnen.
Auf ihren Besuchen in Bangladesch muss Hartmann also die vielen kritischen Publikationen zur Mikrokreditbranche bestätigen. Sie hilft vor allem den Banken und Unternehmen, aus der Armut der Menschen ein lukratives Geschäft zu machen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Armutsbekämpfung an erster Stelle Aufgabe des Staates ist, die nicht an die Privatwirtschaft mit Eigeninteresse abgegeben werden darf.

Zur Autorin: Kathrin Hartmann wurde 1972 in Ulm geboren und studierte Philosophie, Skandinavistik und Kunstgeschichte. Als freie Autorin arbeitet sie für die Frankfurter Rundschau, die taz, Titanic. Für das Wirtschafts-Magazin Enorm führt sie kritische Interviews mit VertreterInnen multinationaler Unternehmen über deren soziales und ökologisches Engagement, beziehungsweise den Auswirkungen ihrer Konzernstrategien. 2009 erschien ihre vielgelobte erste Publikation Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt.

AVIVA-Tipp: Kathrin Hartmann macht ihre Analysen nicht nur an Statistiken fest, sondern redet direkt mit den Menschen, die sonst meist nur als Zahlen auftauchen. Sie schildert unterschiedliche Lebenswirklichkeiten von Menschen, die, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, den Wohlstand und gehobenen Status anderer sichern.

Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft
Kathrin Hartmann

Blessing Verlag, erschienen 12. März 2012
Klappenbroschur, 416 Seiten
18,95 Euro
ISBN 978-3-98667-457-9

Weiterlesen:

Interview mit Kathrin Fischer auf der Leipziger Buchmesse 2012

Interview mit Kathrin Hartmann mit "telepolis"

Es klingt einfach zu schön, dass wir weitermachen können, wie bisher - Interview mit Kathrin Hartmann bei Three Minutes

www.ende-der-maerchenstunde.de

www.tafelforum.de Ein Forum zur kritischen Diskussion der Tafeln

www.tafel.de

Artikel des Süddeutschen zur Studie über Arbeitsmotivation bei Arbeitslosen

Endstation Ladentheke. Einzelhandel – Macht – Einkauf. Unter welchen Bedingungen Ananas und Bananen produziert werden, die in Deutschland über die Ladentheke gehen– Studie im Auftrag von Oxfam Deutschland e.V.

Rezension von Gerhard Klas´ "Die Mikrofinanz-Industrie" bei Jungle World

Website zum Film "The Micro-Dept" von Tom Heinemann

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Literatur

Beitrag vom 03.08.2012

AVIVA-Redaktion