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Beitrag vom 29.03.2012
Nellie Bly - Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie
Doris Hermanns
Als die Journalistin Nellie Bly 1887 von der New York World gefragt wurde, ob sie sich in eine Anstalt für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen Bericht über die Behandlung der dortigen...
... Patientinnen zu schreiben, zögerte sie keinen Moment.
Kein Schicksal könnte schlimmer sein
Es gelang ihr zu ihrem eigenen Erstaunen recht schnell, diverse Ärzte von ihrer Geisteskrankheit zu überzeugen und so wurde sie innerhalb weniger Tage in die New Yorker Anstalt auf Blackwell´s Island eingewiesen.
Bis dahin kannte sie keinerlei Geisteskranke und negative Berichte über solche Einrichtungen hielt sie für völlig übertrieben. Für sie stand fest, dass solche Anstalten nicht schlecht geführt würden und dass dort keinerlei Misshandlungen stattfinden würden.
Nach ihrer Einweisung sollte sie schnell eines Besseren belehrt werden.
Von dem Moment an, als sie dort ankam, unternahm sie keinerlei Versuche mehr, ihre Rolle aufrecht zu erhalten, sondern verhielt sich so wie im normalen Leben. Je vernünftiger sie jedoch auftrat, für desto verrückter wurde sie gehalten. Ihr "Fall" wurde von einem Arzt gar als hoffnungslos eingeschätzt.
Von Anfang an bemerkte sie, dass Untersuchungen der Patientinnen so gut wie nicht stattfanden, Fragen wurden kaum gestellt, geschweige, dass den Frauen zugehört wurde. Besonders krass zeigt sich dies an den diversen Beispielen von Emigrantinnen, die einen großen Teil der Anstaltsinsassinnen bildeten. Oft kaum erst in Amerika angekommen, wussten sie weder, wo sie waren, noch wie ihnen geschah und konnten sich (fast) gar nicht verständlich machen – wurden aber dennoch ohne weiteres als geisteskrank abgestempelt. Eine Möglichkeit, den eigenen Verstand unter Beweis zu stellen, gab es nicht.
Nellie Bly nahm einige der Frauen, die sie dort traf, als genauso geistig gesund wie sich selber wahr, hielt aber die Lebensumstände dort für dermaßen unwürdig, dass gesunde Frauen dort innerhalb von zwei Monaten ein geistiges und körperliches Wrack würden. Die Maßnahmen der Schwestern können nur sadistisch genannt werden. Sie reizten Patientinnen so lange, bis diese sich wehrten, um sie dann zu misshandeln und sich auch noch über sie zu amüsieren. Die "Behandlungen" reichten von Schlägen über Fesselungen bis hin zu Untertauchen in der Badewanne.
Dass viele der Insassinnen nur darum beteten, sterben zu dürfen, ist nach den eindringlichen Beschreibungen von Bly mehr als verständlich.
Auch die Hygiene war eine einzige Katastrophe. Alle Frauen mussten hintereinander einmal pro Woche ins Bad – alle ins gleiche Wasser. Nur dabei gab es Seife, an anderen Tagen nicht. Für alle gab es nur ein Handtuch. Einmal pro Monat gab es andere Kleidung.
Als das Schrecklichste empfand Nellie Bly das Essen, das höchstens gekocht war, aber dem jegliches Salz oder andere Würze fehlten. Eigentlich war alles völlig ungenießbar.
Beschwerden bei den Ärzten hatten keinerlei Sinn, sie wurden als "Einbildung kranker Hirne" abgetan. Zudem wurden die Patientinnen von den Schwestern geschlagen, wenn sie sich beschwerten und wurde ihnen gedroht, sie zu ertränken.
In Blackwell´s Island eingeliefert zu werden, bedeutete dort lebenslang bleiben zu müssen, es gab keine Hoffnung auf ein anderes Leben mehr.
Abgerundet wird diese Reportage, die bei Erscheinen viel Aufsehen erregt hat und hier zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht wird, mit einem sehr informativen Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Martin Wagner. Dieses umfasst nicht nur eine kurze Biografie von Nellie Bly, sondern ergänzt diese mit Hintergründen zum investigativen Journalismus von Frauen in deren Zeit in den USA, den sogenannten Girl Stunt Reporters, und aus der Geschichte der Psychiatrie. Hierin sind auch noch zahlreiche Fotos zu finden, u.a. die Zeichnungen, die zu dem Originaltext in der New York World erschienen.
AVIVA-Tipp: Die schlichte und eindrucksvolle Reportage ist ein gut lesbares Zeitdokument über den Horror, den die Autorin in dieser Anstalt erlebte. Immer wieder zeigt sie Einzelschicksale von Frauen auf, die dort leben mussten, und gibt ihnen damit ein Stück Menschlichkeit zurück. Auch mit anderen Reportagen engagierte Bly sich immer wieder für Arme und Entrechtete.
Nellie Bly
Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Wagner
AvivA-Verlag, erschienen 2011
190 Seiten, Gebunden
Euro 18,50
Diese Rezension wurde uns von Doris Hermanns, Antiquariaat Vrouwenindruk - Modern & Antiquarian Women´s Books, Utrecht, Netherlands, online unter: www.xs4all.nl, und Redaktion Virginia Frauenbuchkritik freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie ist zuerst erschienen in der jungen welt.