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Beitrag vom 16.03.2012
Jennifer Egan - Der größere Teil der Welt
Annika Hüttmann
Dreizehn Kapitel mit jeweils unterschiedlichen Hauptfiguren, die erzählte Zeit reicht von den späten 1970er Jahren bis in die nahe Zukunft - das klingt episch. Ist es auch. Der Autorin gelingt...
... es, die vielen Figuren, Geschichten und Ereignisse so geschickt miteinander zu verweben, dass die vielen einzelnen Teile nicht auseinander fallen, sondern eine riesige Erzählung von beeindruckender Komplexität ergeben.
Der Roman, für den sie 2011 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde, scheint auch ein Beweis dafür zu sein, wie leicht Jennifer Egan das Erzählen fällt. Sie springt in der Zeit vor und zurück, schreibt aus unterschiedlichsten Perspektiven und in verschiedenen Genres. Rockkonzerte, eine Afrikasafari, das Leben im spießigen Vorort, New York in der Zukunft, Neapel, Drogensucht, Selbstmordversuche, Zufälle, eine riesige Imagekampagne für einen mordenden Diktator, Kleptomanie, glückliche und unglückliche Liebe, die Musikindustrie, Kindererziehung - und noch viel mehr - findet sich auf den knapp vierhundert Seiten von "Der größere Teil der Welt". Die Kapitel sind mal klassische Kurzgeschichten, mal Miniromane, Zeitungsartikel, gekonnte Satiren oder auch das komplett aus Präsentationsfolien bestehende Tagebuch einer Dreizehnjährigen. Egan erzählt in der ersten, zweiten und dritten Person - manchmal streng chronologisch, dann wieder mithilfe von Vor- und Rückblenden. Hier und da webt sie ein Zitat ein. Und diese gewagt klingende Erzähltechnik funktioniert tatsächlich.
Dass dem so ist, liegt daran, dass die Autorin ihr Handwerk so sehr beherrscht, dass sie sich nicht in der Menge an Informationen, die sie verarbeitet, verstrickt. Trotz der stilistischen Vielfalt des Romans stehen immer die Figuren im Mittelpunkt - die unterschiedlichen Arten des Erzählens geben jeder von ihnen etwas Charakteristisches und erscheinen logisch und natürlich. Die zahlreichen ProtagonistInnen treffen nur teilweise direkt aufeinander, sind aber fast alle irgendwie miteinander verbunden und tauchen auch in den Episoden auf, in denen sie nicht im Mittelpunkt stehen. Ihre Geschichte wird somit auch außerhalb ihres eigenen Kapitels weiter erzählt – aus einer anderen Sicht heraus.
"Hat bei dir mal eine gewisse... Sasha gearbeitet?" Bennie blieb stehen. Der Name blitzte grell gleißend zwischen ihnen in der Luft auf. Sasha. "Ja, stimmt", sagte Bennie. "Sie war meine Assistentin. Hast du sie gekannt?" "Ich bin ihr mal begegnet, vor langer Zeit." "Sie hat gleich hier um die Ecke gewohnt", sagte Bennie und ging weiter. "Sasha. Ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht."
"Wie war sie so?"
"Sie war großartig", sagte Bennie. "Ich war verrückt nach ihr. Aber dann hat sich herausgestellt, dass sie ein Langfinger war." Er schaute Alex an. "Sie hat gestohlen."
Zu entschlüsseln, wie die Figuren zueinander stehen, gleicht einem Detektivspiel für die LeserInnen. Dieses Spiel macht einen Teil des Lesereizes aus. Scheinbar unvereinbare Episoden fließen unerwartet ineinander und verdeutlichen nochmals, was sich im gesamten Buch zeigt: Das Leben ist voller Zufälle. Niemand kann absehen, was zwischen A und B passieren wird. Zeit betrifft alle, sie arbeitet für oder gegen eineN, doch sie ist schwer zu fassen.
Fast nebenbei wird so außerdem die Geschichte kultureller und wirtschaftlicher Entwicklungen und Umbrüche in Amerika von den 1970er Jahren bis zu einer nahen Zukunft erzählt, in der selbst Babies ganz selbstverständlich Smartpads bedienen.
Musik zieht sich wie ein roter Faden durch "Der größere Teil der Welt". Es treten MusikproduzentInnen und andere in dieser Branche tätige Personen auf, jugendliche Punkbands, alternde Rockstars und ein Junge, der von Pausen in Popliedern besessen ist. Alle Figuren haben eine Gemeinsamkeit: Sie wirken verloren und von sich selbst entfremdet, viele von ihnen leben an der Grenze zur Selbstzerstörung. Und sie sind auf keinen Fall alle sympathisch. Im Gegenteil. Häufig sind sie oberflächlich, korrupt, beleidigend und verlogen, sie schaden sich selbst und anderen. Trotzdem nimmt mensch Anteil an ihren Schicksalen und möchte wissen, wie es ihnen ergeht. Selbst wenn Jennifer Egan Menschen in Ausnahmesituationen schildert, erscheinen sie noch erschreckend nah und real, was vor allem daran liegt, dass sie Situationen bemerkenswert treffend und glaubwürdig beschreibt.
AVIVA-Tipp: Dieses Buch ist so unterhaltsam und unbeschwert, dass es sich gut zwischendurch lesen lässt. Wer möchte, kann dem Roman aber auch etwas mehr Zeit widmen und genauer hinsehen, wie kompliziert der scheinbar leicht dahinfließende Aufbau ist, denn dieser macht "Der größere Teil der Welt" zu einem wirklich besonderen Literaturgenuss.
Zur Autorin: Jennifer Egan wurde 1962 in Chicago geboren und wuchs in San Francisco auf. Neben ihren Romanen und Kurzgeschichten, von denen einige verfilmt wurden, schreibt sie für den New Yorker sowie das New York Times Magazine und lehrt an der Columbia University Creative Writing. Jennifer Egan lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, NY.
(Quelle: Verlagsinformationen)
Jennifer Egan
Der größere Teil der Welt
Originaltitel: A Visit From The Goon Squad
Ãœbersetzt von Heide Zeltmann
Schöffling & Co Verlag, erschienen am 15. Februar 2012
Gebunden, 386 Seiten
ISBN 978-3-89561-224-4
22,95,- Euro
Weitere Infos unter:
www.jenniferegan.com
www.schoeffling.de