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Beitrag vom 15.09.2011
Gülcin Wilhelm - Generation Koffer. Die zurückgelassenen Kinder
Nina Breher
Dieses Buch will Kindern ehemaliger "GastarbeiterInnen", die vorerst in der Türkei zurückbleiben mussten und später nachgeholt wurden, eine Stimme geben. Doch: kann dieses ambitionierte Projekt...
... mithilfe von PsychologInnen und Ratgeberliteratur gelingen?
2011 jährt sich das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland zum fünfzigsten Mal. Höchste Zeit, eine Auseinandersetzung über die bisher wenig aufgearbeitete Geschichte der MigrantInnen zu schreiben, die, als ihre Eltern in den sechziger Jahren zum Arbeiten nach Deutschland zogen, vorerst bei Tanten und Großeltern zurückbleiben mussten. Dieses wichtige und richtige Projekt erschöpft sich in Gülcin Wilhelms Analyse leider bald in Psychologisierungen und Schuldzuweisungen in alle Richtungen.
"Generation Koffer – Die zurückgelassenen Kinder" besteht aus zwei Teilen. Im ersten wird auf nur zehn Seiten der politische Kontext umrissen, um im Anschluss die psychologischen Folgen der Migration für die so genannten Kofferkinder umfassend zu erläutern. Auf den hinteren Seiten sind Porträts von acht der einundzwanzig interviewten Personen abgedruckt.
Die Untersuchung, von der mensch sich viel erhofft, da sie eine Generation zum Thema macht die im bisherigen Diskurs nahezu unsichtbar blieb, schafft leider ein klischeehaftes Bild von Eltern, die aus egoistischen Gründen emigrieren, um Geld zu verdienen – ohne Rücksicht auf Verluste oder ihre Kinder. Diesen wiederum unterstellt das Buch, aufgrund dessen psychisch geschädigt zu sein. Pathologisierend werden ihnen alle nur möglichen Dispositionen von Angstattacke über Bindungs- bis Verlustangst unterstellt.
Die Befragungstechniken der Interviews, die den acht Porträts zugrunde liegen, bleiben im Dunkeln. Allerdings lassen die sich teilweise auffällig ähnelnden Aussagen auf einen zumindest teilweise suggestiven Charakter der Gesprächsführung schließen. Auch die Sekundärliteraturangaben sind nur neun an der Zahl, überwiegend zu Themen wie "Schulprobleme der Ausländerkinder" oder "Mütter, die ihre Kinder verlassen, alles Rabenmütter?". Obendrein sind kurze O-Töne einiger PsychotherapeutInnen, deren Renommée unbekannt ist, keine wissenschaftlich hinreichenden Kriterien für verallgemeinernde Schlussfolgerungen wie: "Im Erwachsenenalter neigen jene, die als Kinder häufig gependelt sind, zusätzlich zu Rastlosigkeit und einer gewissen Wankelmütigkeit." (S.45), oder: "Das Unbeständige in ihrem Leben machte sie später in ihren Beziehungen unbeständig" (ebd.).
Dass eine frühkindliche Trennung von der Mutter aufgrund des Anwerbeabkommens schwerwiegende Folgen für die Familienstruktur und für das seelische Wohlbefinden aller Betroffenen hatte, die auch heute noch nachwirken, steht nicht zur Debatte. Doch aus wenigen empirischen Quellen hochgradig allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen, ist gefährlich. Ökonomische Kraftfelder und Widrigkeiten, die nicht zuletzt der deutschen Politik und Mehrheitsgesellschaft anzulasten sind, sowie der Mangel an Alternativen zur Migration in vielen Familien geraten in den Hintergrund. Stattdessen wird die Einwanderung, die das Anwerbeabkommen auslöste, als die Flucht dämonischer Mütter vor ihren Kindern konstruiert. Von den angeblich prinzipiell untreuen und verantwortungslosen Vätern ganz zu schweigen.
Klug ist das Vorwort des Grünen-Politikers Cem Özdemir. Als einzige Stimme in diesem Buch versucht er, eine Brücke zu einer bundesdeutschen Auseinandersetzung mit den heutigen Problemen der ehemaligen "GastarbeiterInnen" zu schlagen, die über das Empfehlen von TherapeutInnen hinausgeht: "Eine humane Migrationspolitik sollte Bedingungen, die zur Trennung von Eltern und Kindern führen, sicher nicht fördern - geschweige denn, die Trennung gesetzlich erzwingen." (S.11f) Auch im letzten Teil des Buches findet sich eine kleine Überraschung. Sie wiederspricht dem ersten Teil nicht, bleibt in diesem aber zumindest völlig unerwähnt: Mehrere der Befragten bekunden in ihren Porträts deutlich "Verständnis für die prekäre Lage der Eltern" (Emre, S.103) beziehungsweise für die Beweggründe der Mutter (Dilek, S.90). Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Darstellung im analytischen Teil des Buches nur partiell ist.
AVIVA-Fazit: Anstatt eine längst überfällige, umfassende Auseinandersetzung anzuregen, stempelt die Autorin eine ganze Generation als psychisch vorbelastet ab. Sogar die unterstellte Kriminalität heute jugendlicher TürkInnen führt sie auf deren Mütter zurück, die in den sechziger Jahren emigrierten und alle kommenden Generationen angeblich irreversibel schädigten. Der Untersuchung fehlt eine klare Differenzierung zwischen sozialen, ökonomischen und ethnischen Gründen für das Handeln der Eltern, sodass politische Diagnosen und Forderungen außen vor bleiben. Vor allem LeserInnen ohne Migrationshintergrund sehen dank einer solch pathologisierenden Darstellung allzu schnell ihre Stereotype bestätigt, die bekämpft gehören.
Zur Autorin: Gülcin Wilhelm, geboren in Istanbul, lebt seit 1977 in Berlin. Sie war 18 Jahre in verschiedenen Funktionen bei der Wochenzeitung "Der Freitag" tätig. Heute arbeitet sie als freiberufliche Publizistin.
Gülcin Wilhelm
Generation Koffer
Die zurückgelassenen Kinder
Orlanda Verlag, erschienen: Mai 2011
Paperback, 174 Seiten
ISBN: 978-3-936937-83-1
17,90 Euro
Weitere Informationen finden Sie unter: www.orlanda.de
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