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Beitrag vom 03.02.2008
Der Multikulti-Irrtum
Clarissa Lempp
Seyran Ates widmet sich der Frage "Wie wir in Deutschland besser zusammen leben können". Aus eigenem Erleben und handfesten Grundlagen verfasst sie eine klare Momentaufnahme der Integrationspolitik
Parallelgesellschaft, Zwangsheirat, Ehrenmorde- Schlagwörter die den deutschen Integrationsdiskursen in den letzten Jahren Feuer geben. Durch Öffentlichkeitsarbeit von Menschenrechts-, Frauen- und MigrantInnenorganisationen sind diese Begriffe keine leeren Hülsen mehr. Die Frage nach dem Umgang damit ist aber noch auf vielen Wegen offen. Seyran Ates blickt kritisch auf die Begegnung der deutschen Integrationspolitik und die Wertetraditionen in den Einwanderer-Communitys. Vier Jahre nach ihrer Autobiografie Große Reise durch das Feuer" positioniert sie sich, selbst als "streitbare" Persönlichkeit in der öffentlichen Integrationsdebatte wahr genommen, mit ihrem Buch "Der Multikulti-Irrtum" zur aktuellen Lage.
Anschaulich verfolgt Seyran Ates die Geschichte der türkischen MigrantInnen in Deutschland: Von den GastarbeiterInnen in den 1950ern, die alle in die Heimat zurückkehren wollten und trotz "Tarzan-Deutsch" und Arbeiterwohnheimen 30 Jahre blieben. Deren Kinder, die zweite "entwurzelte" Generation, ist laut Ates der Beweis dafür, dass die ersten müden Integrationsversuche der Multi-Kulti BefürworterInnen gescheitert sind. Und sie zieht ein trauriges Resümee über die dritte Generation: sie seien kaum mehr als "zweisprachige Analphabeten". Um diesen Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit zu bieten, muss nach Ates die sprachliche Bildung und damit auch die Schulpolitik, aktiver in den Integrationsprozess eingebunden werden. Deutschland definiert sich heute, wie die USA, als Einwanderungsland, die Realität dagegen sieht anders aus, so Ateº. Die "Mulitkulti-Fanatiker" und die konservativen muslimischen Verbände seien Schuld am "fürchterlichen Nebeneinander der Kulturen". Das als Toleranz verkleidete gegenseitige Desinteresse von "Urdeutschen" und Einwanderern stelle sich gegen eine erfolgreiche Integration der Zuwanderer. Die Schwierigkeiten spiegeln sich bereits in der fortwährenden Suche nach der angemessen Bezeichnung wider. Aus "Gastarbeitern" wurden zunächst "Ausländer", dann "ausländische Mitbürger", später "Deutsche türkischer Herkunft" und nach dem 11. September 2001 schließlich "Muslime". Ates selbst schlägt den Begriff "Deutschländer" vor, der in der Türkei für in Deutschland lebende Türken verwendet wird.
Aus persönlichen Erfahrungen und mit dem Wissen einer Familienanwältin und Frauenrechtsvertreterin deutsch-türkischer Herkunft, sind für Ateº, neben Bildung und Sprache, Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen zentrales Thema einer gelingenden Integrationspolitik. Sie beschreibt unverblümt Fälle von sexueller und häuslicher Gewalt und berichtet über die "Überwachungssysteme" der Familien. Ehrenmorde, "Jungfräulichkeitswahn", Verschleppung, Bedrohung sollen mit dem Koran gerecht fertigt werden. Dass die Scharia, also die islamische Gesetzschreibung, solche Verbrechen berechtige, entkräftigt Ateº mit dem Hinweis darauf, dass sie keine allgemeingültige Grundlage bildet. Der Islam bilde keine homogene Gruppe. Verschiedene Auslegungen prägen die Sicht und den Umgang mit den Lehren und Rechten. Die religiöse Deutungshoheit der Fundamentalisten zentriert Seyran Ateº als Ausgangspunkt eines angemessenen Integrationsansatzes. Nicht der Deutsche Rechtsstaat muss sich nach der Vorstellung von Religionsfreiheit einer Gruppe richten, sondern der/die Einzelne muss das System der Gesellschaft, in der er lebt, respektieren. Der "Kopftuchstreit" oder die Rechtssprechungen in Fällen der Befreiung vom Sportunterricht muslimischer Mädchen, zeigen aber ein gegenteiliges Bild. Aber nur eine Gesellschaft mit eigenen Vorstellungen und dem Konsens über ihre Werte kann diese auch verteidigen und vermitteln. Seyran Ates plädiert deshalb nicht nur für eine Liberalisierung des Islams, sie rückt auch in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer "europäischen Leitkultur" im Sinne eines "Kulturpluralismus mit Wertekonsens" in den Blick.
Zur Autorin: Seyran Ates, 1963 in Istanbul geboren, lebt seit 1969 in Deutschland. Sie ist Autorin und arbeitete bis 2006 als Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei. 2003 erschien ihre Autobiographie Große Reise ins Feuer. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Berliner Frauenpreis des Berliner Senats für Wirtschaft, Arbeit und Frauen (2004), die Ehrung zur Frau des Jahres durch den Deutschen Staatsbürgerinnen-Verband (2005) und den Ossip-K.-Flechtheim-Preis des Humanistischen Verbands Deutschland (2006). Seyran Ates lebt in Berlin.
Weitere Informationen unter: www.seyranates.de
AVIVA-Tipp: Der "Multikulti-Irrtum" berichtet eindrücklich und bissig von der "Integrationsfront". Seyran Ates beweist sich mit vielversprechenden gesellschaftspolitischen Ansätzen und klugen Vorschlägen zur Bildungs- und Integrationspolitik als Frau vom Fach. Mit mutiger und scharfsinniger Stimme kritisiert sie die Integrationspolitik und scheut sich auch nicht davor, ihre persönliche Lebenswelt und ihre eigene Position als Integrationsvertreterin unter die Lupe zu nehmen. Zwar schlägt sie mit der Verurteilung der Linken und der "Multi-Kulti-Fanatiker" bisweilen über die Stränge, der Erfahrungswert und die doppelte Perspektive, die das Buch lesenswert machen, bleiben dadurch aber weitgehend unberührt.
Seyran Ates
Der Multikulti-Irrtum
Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können
Ullstein Verlag, erschienen 2007
288 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3550086946
ISBN-13: 9783550086946
18,90 Euro