AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 26.03.2008
Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen. Von Cornelia Kruse und Gorch Pieken
Kristina Tencic
Der zufällige Fund einer verstaubten Kladde in einem süddeutschen Dorf stellte sich als ein außergewöhnlich detailliertes Stück Zeitgeschichte heraus: "Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen"...
...liest sich als das dokumentierte Schicksal einer jüdischen Familie zwischen 1937 und 1946 und ist ein weltweit einzigartiges Dokument.
Vordergründig ist es nur eine Auflistung von Einkäufen, Besorgungen und Einnahmen jeglicher Art, welche die Hausfrau und Mutter Elsa Chotzen zwischen 1937 und 1946 in einem Haushaltsbuch fein säuberlich auflistete. Doch haben die FinderInnen dieser Kladde richtig erkannt, dass sich in dem Buch weitaus mehr verbirgt. Was dort als Ausgaben für Englisch- und Spanischunterricht vermerkt ist, steht im Zusammenhang mit den Emigrationsplänen der Familie Chotzen, das sind Mutter, Vater, vier vitale Söhne und deren Frauen/Freundinnen. Ein weiteres Beispiel sind die ab dem Herbst 1938 signifikant ansteigenden Ausgaben für Medizin und Arzneimittel der Familie. Der Grund ist die Zwangsarbeit, zu welcher Vater und Söhne einberufen worden sind.
Als die Situation sich für die Familie im Alltag 1937/38 zusehends verschlechtert, bleibt ihnen nur eine "leise, wenn auch stetig schwindende Hoffnung [...], dass der Spuk bald zu Ende gehen könnte. "Weitermachen" ist die Losung, die sie einander von nun an immer häufiger sagen müssen." Alle Mitglieder der Familie Chotzen suchen ihren Weg durch die Bürden, die ihnen die Nazis auferlegen. So setzen sich die Brüder über das 1942 erlassene Gesetz hinweg und behalten ihre Kamera, was die über 100 Bilddokumente in diesem Buch ermöglichte.
Gerade die Mutter bleibt in diesen Jahren der liebevolle Mittelpunkt der Familie, die nichts unversucht lässt, ihre Söhne zu retten. Neben Paketen, welche sie ins KZ nach Theresienstadt schickt, bettelt sie ihre Söhne mehrmals aus Sammellagern frei, was die Nazis jedoch nicht von ihrer Deportation nach Auschwitz abhält. Somit ist das Buch nicht zuletzt eine Hommage an "Mutti Chotzen", welche ihr die gebührende Ehre im Nachhinein zukommen lässt.
Das Haushaltsbuch gibt bereits detaillierte Einblicke in das Alltagsleben der jüdischen Familie zur NS-Zeit, beleuchtet die Schikanen und schier unlösbaren Probleme, doch werden Beträge wie beispielsweise die 42 Mark für Schnaps im Jahr 1945 erst durch ZeitzeugInnenenberichte und die gründliche Recherchearbeit der AutorInnen Gorch Pieken und Cornelia Kruse nachvollziehbar. Aber auch Ruth Weinstein, eine heute in New York lebende Schwiegertochter Elsa Chotzens, beleuchtet die tragischen Umstände der Aufzeichnungen mit ihren heute erstmalig in Worte gefassten Erlebnisse.
AVIVA-Tipp: "Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen" ist eine der am besten dokumentierten Familiengeschichten aus der NS-Zeit. Die Ausgaben und Einnahmen der Familie, die ZeitzeugInnenberichte und Fotografien werden durch die hervorragende Recherchearbeit zu einem sehr anschaulichen und verständlichen Buch ergänzt. Somit ist es sehr gut für die Aufklärungsarbeit von Jugendlichen geeignet, was eine/n bereits wissende/n LeserIn nicht davon abhalten sollte, sich die Historie anhand dieser eingehend geschilderten Zeitgeschichte zu vergegenwärtigen.
Zu den AutorInnen:
Cornelia Kruse, geboren 1968 in Wuppertal, studierte Neuere Deutsche Literatur, Romanistik und Slawistik in München. Nach redaktioneller Tätigkeit in Paris und Moskau lebt sie seit 1999 als freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr das ebenfalls in Zusammenarbeit mit Gorch Pieken entstandene Buch "Preußisches Liebesglück. Eine deutsche Familie aus Afrika" (2007).
Gorch Pieken, geboren 1961 in Sanderbusch bei Jever, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Niederländische Philologie in Köln und schloss das Studium mit der Promotion ab. Nachdem er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Historischen Museum arbeitete, ist er seit 2006 wissenschaftlicher Leiter der Neukonzeption des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Er ist Autor verschiedener Publikationen und Dokumentarfilme zu historischen Themen, u.a. "Marie und Marie – Vom schönen Schein einer Fälschung" (ZDF/Arte 2000).
(Quelle: Verlagsinformation)
Weitere Informationen zur Familie Chotzen und Filmmaterial erhalten Sie unter: www.chotzen.de
Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen. Schicksal einer jüdischen Familie 1937 – 1946.
Gorch Pieken und Cornelia Kruse
nicolai Verlag, erschienen März 2008
Gebunden, 288 Seiten, 300 Abbildungen (farbig u. s/w)
ISBN:978-3-89479-298-5
34,90 Euro