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Beitrag vom 22.04.2008
Manfred Gailus und Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung
Yvonne de Andrés
Konturen einer vergessenen Biografie. Elisabeth Schmitz (1893 – 1977), eine mutige Frau der Bekennenden Kirche, die Ausgrenzung und Diskriminierung von Juden minutiös dokumentiert hat.
Es war diese eine Frage, die Elisabeth Schmitz nicht los ließ: Wo ist mein Bruder Abel?. Sie blieb mit ihrer Haltung und ihrem Handeln leider eine Ausnahme. Das im April 2008 veröffentlichte Buch schildert das Handeln der mutigen Christin.
Elisabeth Schmitz, promovierte Theologin und Historikerin, verfasste 1935/36 anonym eine "Denkschrift gegen die Judenverfolgung". Sie dokumentierte darin die Willkür, Verfolgung und die Gewalt der Nationalsozialisten: "Im Namen von Blut und Rasse wird seit stark zwei Jahren die Atmosphäre in Deutschland unaufhörlich planmäßig vergiftet durch Hass, Lüge, Verleumdung, Schmähung niedrigster Art in Reden, Aufrufen, Zeitschriften, Tagespresse, um die Menschen zu willigen Werkzeugen dieser Verfolgung zu machen". Elisabeth Schmitz belegte in dieser Arbeit minutiös die Ausgrenzung der sogenannten Nichtarier in Nazi-Deutschland. Die Schrift war in drei Kapitel untergliedert: "Die innere Not", "die äußere Not" und "die Stellung der Kirche". Das Kapitel Die innere Not bezieht sich auf die Lage der jüdischen Kinder, der Ehen und der Familien. Im Kapitel Die äußere Not beschreibt sie die Maßnahmen, die durch die Veränderungen im Beamtengesetz, dem Boykott jüdischer Geschäfte, dem Wehrgesetz oder in Schulen und Universitäten hervorgerufen wurden. Die Schrift ist sehr sachlich verfasst. Schmitz belegt ihre Aussagen mit vielen Beispielen, Gesetzesauszügen und Quellenhinweisen. Diskriminierung und Verfolgung werden plastisch geschildert. Im letzten Kapitel geht Elisabeth Schmitz scharf und sehr klar auf die Rolle der Kirche und deren Schweigen und Nicht-Handeln ein. Auch die Bekennende Kirche zieht sie in ihre Kritik mit ein: "Die Bek. Kirche leidet (...) um ihres Glaubens willen, der Nichtarier wird verfolgt, weil Gott ihn in eine bestimmte Familie hat hineingeboren werden lassen".
Die Denkschrift war aus eigener Initiative entstanden. Schmitz stellte ihn der Bekennenden Kirche zur Verfügung. Die Reaktion der Bekennenden Kirche auf die Denkschrift war jedoch Schweigen und Verweigerung der Annahme. Der Text wurde als zu gefährlich und zu brisant eingestuft. Auf der Synode der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union (APU) vom 23. bis 26. September 1935 sollte die so genannte "Judenfrage" behandelt werden. Das Thema entfiel. Das vorliegende Buch dokumentiert nicht nur die Arbeit von Elisabeth Schmitz, sondern auch die enttäuschten Briefe, die sie an Karl Barth und Helmut Gollwitzer schrieb. Beide prominenten Mitglieder der Bekennenden Kirche in Berlin bat Schmitz, endlich zu handeln.
1938 spitzen sich die Ereignisse in Deutschland immer mehr zu. Über das brutale Progrom am 9./10. November schrieb Elisabeth Schmitz an Gollwitzer, dass oft "zuerst die Torarollen übergossen und angezündet wurden. Das Volk hat nicht verstanden, dass die Gebote verbrannt worden sind". Sie appellierte an Gollwitzer, am folgenden christlichen Bußtag, dem 16. November, auf die Ereignisse in seiner Predigt einzugehen. Er tat dies dann auch. Gollwitzers Predigt wurde von den anwesenden Gemeindemitgliedern als regelrechte "Gerichtspredigt" über das NS-System interpretiert. So auch von Elisabeth Schmitz langjähriger Freundin Martha Kassel. Sie hatte nach dem 1. April 1933 infolge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums – das erste Gesetz in dem "Nicht-Arier" definiert wurden - ihre Stellung verloren und wohnte nun bei Elisabeth Schmitz. Martha Kassel war nicht die einzige Zuhörerin, die der Predigt besonders genau lauschte. Auch viele andere verfolgte Menschen, die in der Kirche waren, hörten besonders genau zu. Gollwitzers Predigt endete mit der Frage: "Was sollen wir denn tun?" Als Antwort übernahm er ein Bibelzitat, das Dietrich Bonhoeffer immer verwendete, wenn er die Notwendigkeit des Widerstandes gegen die Judenverfolgung im Dritten Reich propagierte: "Tue deinen Mund auf für die Stummen, und für die Sache aller, die verlassen sind!" (Sprüche 31,8)
Elisabeth Schmitz muss eine beeindruckende Frau gewesen sein. Während des Nationalsozialismus wohnte sie in Berlin-Mitte, in der Auguststrasse 82 und in der Luisenstrasse. Anders als viele Mitmenschen ihrer Zeit war sie vom Nationalsozialismus nicht fasziniert, sondern vielmehr ein humanistisch denkender Mensch, der viel Mitgefühl für Verfolgte hatte. Als 1938 für die Schulen neue Lehrpläne verabschiedet wurden, die eine Erziehung zum "nationalsozialistischen Menschen" vorschrieben, quittierte Schmitz den Schuldienst und kehrte in ihre Geburtsstadt Hanau zurück.
Dort war sie nach 1945 wieder als Oberstudienrätin tätig. Sie starb am 10. September 1977. Im Jahr 2005 wurde ihr ein Ehrengrab eingerichtet. Manfred Gailus hat ihr mit diesem Buch ein Denkmal nachgeliefert.
Zum Herausgeber: Manfred Gailus , geboren 1949 in Winsen/ Luhe, ist apl. Prof. für Neuere Geschichte am Institut für Geschichte und Kunstwissenschaft der Technischen Universität Berlin. Das Thema "Protestantische Kirche im NS" hat der Autor in vielfältigen Publikationen und Aufsätze behandelt, so z.B. 2006 (zusammen mit Wolfgang Krogel) "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000", 2008 erscheint "Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich".Gailus hat darüber hinaus verschiedene Aufsätze in der Zeitschrift für Geisteswissenschaft publiziert.
AVIVA-Tipp: Elisabeth Schmitz ist vielen Menschen unbekannt. Erst 1999 wurde enthüllt, dass sie die Verfasserin der berühmten (anonymen) Denkschrift gegen die Judenverfolgung war. Die bescheidene und aufrechte Frau stand mit den Theologen und Kirchenmännern ihrer Zeit in direktem oder indirektem Kontakt, so zum Beispiel mit Karl Barth, Martin Niemöller, Walter Künneth und Helmut Gollwitzer. Sie versuchte diese Theologen zu bewegen, ihren Einfluss stärker gelten zu machen, leider mit wenig Erfolg. Elisabeth Schmitz ist eine Frau, der auch jenseits der Protestantischen Kirche heute wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Der vorliegende Tagungsband der Evangelischen Akademie zu Berlin leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.
Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift gegen die Judenverfolgung
Konturen einer vergessenen Biographie (1893-1977)
Herausgegeben von Manfred Gailus
Wichern Verlag, erschienen April 2008
kartoniert - 233 Seiten,
ISBN: 9783889812438
19,80 Euro