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Beitrag vom 13.11.2007
Im Schatten des Holocaust
Sarah Ross
Der Historiker James F. Tent widmet sich einem Thema, das in der Forschung zum Holocaust oft vernachlässigt wurde, nämlich dem Schicksal deutsch-jüdischer Mischlinge im Dritten Reich.
Aufgrund der perfiden Nürnberger Rassegesetze von 1935, die eine Einteilung der Menschen mit teilweiser jüdischer Abstammung in "Mischlinge ersten" oder "Mischlinge zweiten Grades" vornahmen, waren weit mehr Menschen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt, als die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Das Schicksal deutsch-jüdischer Mischlinge ist als Thema lange Zeit auch in den Studien zum Dritten Reich untergegangen. Die Thematik ist bereits 2003 von dem Historiker James F. Tent in seinem Buch "In the Shadow of the Holocaust. Nazi Persecution of Jewish-Christian Germans" wieder aufgegriffen worden, und liegt nun auch in der deutschen Übersetzung von Karl Heinz Siber vor.
Prof. Dr. James F. Tent, Experte auf dem Gebiet der deutschen Nachkriegsgeschichte, stieß per Zufall auf die bis hierher ungehörten Einzelschicksale sogenannter Mischlinge. Er schreibt: "Am Anfang dieser Arbeit stand kein Entschluss, sondern eine Zufallsbegegnung." Im Sommer 1978 traf der Autor, "damals ein junger Assistenzprofessor für Geschichte, in einem D-Zug der Deutschen Reichsbahn, der durch die DDR rollte", auf Professor Werner Jentsch, der während des Nationalsozialismus als Halbjude verfolgt wurde. Während die DDR nicht das geringste Interesse an Jentschs Lebensgeschichte zeigte, wie der ehemalige Mathematikprofessor Tent gegenüber derzeit mehrmals betonte, ließ sie dem Autor über mehrere Jahre hinweg keine Ruhe. So begann er in den 1990er Jahren Interviews mit ZeitzeugInnen zu führen, die schließlich die Basis für das vorliegende Buch bildeten.
Deutsche wie Prof. Jentsch lebten während des Dritten Reichs ebenfalls unter zunehmend restriktiven Bedingungen, und auch ihre Lebenssituation verschärfte sich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, als Hitlers Regime nach und nach seine ambivalente Haltung gegenüber den "Mischlingen" aufgab. Wie Millionen anderer Juden in Europa, wurden auch Menschen mit teilweiser jüdische Abstammungen in die Konzentrationslager deportiert. Das Ende des Krieges bewahrte zwar die meisten von ihnen vor ihrem Tod, jedoch endete ihr Leiden in den Folgejahren nicht.
AVIVA-Tipp:
Der Historiker James F. Tent ist in seinem Buch "Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer Mischlinge im Dritten Reich" den Fragen nachgegangen, wie jüdisch man sein musste, um im Dritten Reich als Jude zu gelten, und mit welche Konsequenzen jemand zu rechnen hatte, der von den Nazis als "Mischling" eingestuft wurde. Mit großer Sorgfalt rekonstruiert der Autor die Jahrzehnte lang vergessenen Geschichten der ebenso vergessenen Opfer des Holocaust. Dabei stützt er sich sowohl auf aktuelle Forschungsergebnisse zu diesem Thema als auch auf bisher unveröffentlichte Interviews mit ZeitzeugInnen.
Zum Autor:
James F. Tent ist Professor und Chair am History Department der University of Alabama in Birmingham. Er hat zahlreiche Studien zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts veröffentlich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die deutsche Nachkriegsgeschichte. Auf Deutsch ist u.a. die Untersuchung "Geschichte der Freien Universität Berlin 1948-1988. Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen" erschienen.
James F. Tent
Im Schatten des Holocaust
Schicksale deutsch-jüdischer "Mischlinge" im Dritten Reich
Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber
Böhlau Verlag, erschienen Mai 2007
352 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-412-16306-8
24,90 Euro