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Beitrag vom 17.09.2007
Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen. Herausgegeben von Gabriele Rohmann
Marietta Harder
"Komm doch mal rüber Mann, weil ich ja sowieso gewinn. Weil ich ´n Mädchen bin!", so Lucy Lectric 1994. Auch heute geben sich junge Frauen selbstbewusst und provozieren, wie der Sammelband zeigt.
Welche Rolle spielen Frauen in der Pop- und Rockgeschichte? Warum trug Punkmusik einen Teil zur Emanzipation bei? Im ersten Abschnitt geben die AutorInnen einen kurzen, dennoch vielschichtigen Überblick zur Geschichte der Populärmusik und legen ihren Fokus hier auf (bekannte) Künstlerinnen. "Utopisch, kämpferisch und/oder unendlich naiv wurde der Weg zur Weltveränderung beschritten, und Frauen als Musikerinnen waren von Anfang an mit dabei." Ob im Kampf für die Änderung gesellschaftlicher Strukturen oder als Überbringerin von persönlichen Lebenserfahrungen – Frauen haben immer etwas zu sagen.
In ihrem musikgeschichtlichen Abriss beleuchtet Stephanie Kissling nicht nur die sich wandelnde Rolle der Frau, sondern es kommt auch ein kritischer Unterton zum Tragen, mit dem das gesamte Buch durchzogen ist. Angefangen in den 60er Jahren mit Protagonistinnen der Hippie-Bewegung, über die Rolle von "All-female-Bands", die zum Teil feministische Texte sangen, werden auch Girl Groups der 90er betrachtet. So geht die Autorin auf den Erfolg der Minirock-tragenden Spice Girls ein, die mit "arschwackelnden Auftritten" zu Identifikationsfiguren unzähliger Mädchen wurden und das Frauenbild mitprägten.
Der folgenden Abschnitt befasst sich mit Fragen der Gender-Konstruktion, gibt ausführliche Definitionen und stellt theoretische Überlegungen an: Kommt es in Jugendkulturen zur Modifikation von Geschlecht? Inwiefern spielen Individualisierung und Selbstinszenierung eine Rolle?. Der wissenschaftliche Text beleuchtet diese Themen und schließt mit einer Beispielstudie zur Rollenfrage (Doing Gender) in einer ländlichen Techno-Szene: "Das ist zum Beispiel ziemlich typisch: Es gibt wenig weibliche DJ´s. (...) sonst sind´s meistens Typen. Manchmal denkt man gar nicht drüber nach.", äußert sich eine Jugendliche und lässt sich auf Überlegungen zu versteckten Hierarchien ein. Werden Mädchen genauso akzeptiert wie die männlichen Techno-Anhänger?
Mit Vorstellung einer in Deutschland noch unbekannten Jugendströmung macht der Autor Marco Höhn neugierig und lässt die LeserInnen in eine Welt "krasser Töchter" eintauchen: "Man hört sie nicht nur gerne, man sieht sie auch gerne. Also zum Beispiel der Stil, wie die so auftreten das ist einfach so anders", beschreibt die 20jährige Lea ihre Begeisterung für "Visual kei", eine Jugendkultur, in der neben Musik (J-Rock) vor allem die Kostümierung eine große Rolle spielt. Die Mitglieder bewegen sich mit ihrem Kleidungsstil auf dem schmalen Grat zwischen Individualisierung und Uniformierung, was typisch ist für zahlreiche Jugendkulturen. Diese neue Szene aus Japan verbreitete sich hauptsächlich über das Internet und hat nicht selten mit Ablehnung von männlich dominierten Gruppen (HipHop) zu kämpfen. Zahlreiche Abbildungen und Zitate von "Insidern" wecken schnell das Interesse der LeserInnen.
Lange, schwarze Haare, dunkle Augen und heller Teint; Totenkopfaccessoires und schwarze Mäntel im Hochsommer. Eindeutig grenzen sich auch die Anhänger der Gothic-Szene von ihrer Umgebung ab. Anders sein, sich abheben und doch Zugehörigkeit zu symbolisieren, ist ein Merkmal dieser Gruppierung und der Jugendkulturen allgemein. Doch was verbirgt sich "hinter den scheinbar ´geschlechtslosen´, aber gleichzeitig stark nach Geschlecht differenzierten Stilen, Praktiken und Bildern des Gothic"? Neben Herkunft und Entwicklung dieser Jugendkultur werden Genderfragen fokussiert und die angebliche Gleichberechtigung kritisch betrachtet. Gelungene Formulierungen und persönliche Erfahrungen der Autorin Dunja Brill runden dieses Unterkapitel ab.
Nachstehende Kapitel geben Einblicke in harte Szenen, in denen Männer den Ton angeben. Matthias, ein 30jähriger Skinhead, für den sexistische Sprüche und Lieder alltäglich sind, sagt zum Thema Frauen in seiner Clique: "Klar ist das ´ne Männerdomäne. Aber es ist nicht alles ein Topf, das ist zu verschieden. Es gibt ´n paar starke Frauen, da hat jeder ´n Heidenrespekt vor, aber das sind wenige." Bezeichnend ist, dass vor allem in den von Männern dominierten Jugendgruppen (Hardcore, Skinhead, Metal) bislang keine Gleichberechtigung erreicht wurde und die übereinstimmende Meinung herrscht, junge Mädchen müssten sich selbst Respekt verschaffen und seien mit ihrer Rolle glücklich. Unter den Rockabillys, die das Rollendenken der 50er Jahre aufleben lassen, ist Emanzipation ebenfalls nicht erwünscht. Die Frauen lassen sich gerne sagen, "wo´s langgeht.", sehen sich aber nicht als unterdrückt: "Meine eigene Meinung hab´ ich selber und möchte´ ich auch gern weiter behalten."
Und wie sieht es mit der Geschlechterrolle im HipHop aus? Rapperin Pyranja äußert sich in einem Interview zu der Stellung von Frauen in dieser Szene. Sie selbst gehört seit mehr als zehn Jahren dazu und ist der Meinung, dass es "sich nach einem patriarchalischen Konzept von Männlichkeit" gestaltet. Dennoch fordert sie eine zunehmend weibliche Beeinflussung der Kultur und spricht sich für eine Veränderung der Rollenmuster aus. Besonders hier in der Rap-Szene, aber auch in den vorher genannten Jugendkulturen ist ein Unterschied zwischen den Einstellungen von Mädchen und Jungen erkennbar.
Abschließend lässt sich feststellen: "Es gibt nicht den Umgang mit Geschlecht in Jugendszenen, sondern eine Vielzahl von Strategien, Einstellungen, Rollenmustern und Ansichten." Das Eintauchen in die verschiedenen Kulturen macht den LeserInnen einerseits nachvollziehbar, welche Ideale Mädchen und Jungen besitzen, was sie darstellen möchten. Hier lassen insbesondere Erfahrungsberichte der Jugendlichen die Ausführungen authentisch werden. Andererseits bleibt das Unverständnis über die bewusste und von Frauen geduldete Unterdrückung in den harten Gruppen, die von Männeransichten geprägt sind.
Der Beleuchtung einzelner Jugendszenen folgt im vorletzten Teil des Sammelbandes die Fokussierung auf "Mädchen und Medien". Wie beeinflussen Zeitschriften und die darin ständig gezeigte Glitzerwelt aus rosa Wolken das Selbstbild der Zielgruppe? Welches Frauenbild wird hier vermittelt? Vor allem aber stellt die Autorin alternative Magazine vor, deren Inhalte darauf abzielen, das gängige Girlie-Bild aufzuheben, und auch gesellschaftspolitische Probleme an die Leserin zu bringen. Für junge Frauen besteht in "Görls" die Möglichkeit, "sich auszudrücken und auszuprobieren", es werde ihnen bei der Berufsfindung geholfen, sagt eine der Initiatorinnen.
Aus medienwissenschaftlicher Sicht erfolgen Vergleiche von drei nicht-kommerziellen Heften und die Vorstellung feministischer Medienarbeit: "Ich wünsche mir, dass der Ruf von Frauen auf dem gleichen Stand ist wie der von Männern. Frauen sollen selber sagen, was sie denken und ihren Lebensweg selbst bestimmen." Mädchen, die eine ähnliche Meinung vertreten, werden bei ihrer Arbeit in einem Workshop gezeigt.
Was hat sich an dem Frauenbild im Laufe der Jahrzehnte geändert? Ausgehend von ihrer Rolle in den 60er Jahren beschreibt Autorin Claudia Wallner im letzten Abschnitt die Entwicklung der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Vom Heimchen am Herd zur toughen Businessfrau mit klaren Vorstellungen von der Zukunft? Ganz so ist es nicht, dennoch können Mädchen heute selbstbestimmter ihren Weg gehen.
AVIVA-Tipp: Es schreiben nicht nur verschiedene AutorInnen, auch viele Jugendliche äußern sich zu den Umgangsformen in "ihrer Szene". So bietet der Sammelband einen spannenden Einblick in jede Jugendkultur: Ob Rockabillys, weibliche Fußballfans oder rechtsextreme Mädchen – die Stellung junger Frauen wird anhand persönlicher Erfahrungen verdeutlicht. Neben der Informationsfülle blicken die VerfasserInnen stets kritisch auf die Umstände, denen sie in den Gruppen begegnen.
Zu den AutorInnen: Herausgeberin Gabriele Rohmann, geboren 1986 ist Sozialwissenschaftlerin M.A., Journalistin und Dozentin in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Sie gründete das Archiv der Jugendkulturen in Berlin mit und veröffentlichte bereits zahlreiche Publikationen zu den Themen Globalisierung, Jugendkulturen und Protestbewegungen. Zusammen mit (unter anderem) Medien- und MusikwissenschaftlerInnen, MusikerInnen, SoziologInnen und PädagogInnen verfasste sie die Einträge des Sammelbandes "Krasse Töchter". Weitere Infos unter: www.krasse-toechter.de
Weiterlesen:
Punk, Rock und riot grrrls in Chinas Hauptstadt
"Female HipHop" von Anjela Schischmanjan und Michaela Wünsch.
Weitere Infos:
www.jugendkulturen.de
www.ladyfest.org
Gabriele Rohmann (Hrsg.) für das Archiv der Jugendkulturen e.V.
Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen
Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, erschienen im August 2007
Mit zahlreichen Abbildungen, Broschiert, 312 Seiten
ISBN: 978-3-94021-337-2
Preis: 25 Euro