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Beitrag vom 28.07.2008
Brigitte Reimann – Jede Sorte von Glück
Silvy Pommerenke
Die ostdeutsche Autorin wäre am 21. Juli 2008 fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat der Berliner Aufbau-Verlag bislang überwiegend unveröffentlichte Briefe...
...an die Eltern herausgegeben.
Lediglich einige der Briefe sind bereits in der 1983er Ausgabe "Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern" vom Verlag Neues Leben erschienen, wobei hier aber die AdressatInnen nicht angeführt wurden, so dass die LeserIn nur erahnen kann, an wen die Zeilen gerichtet waren. Diese editorische Nachlässigkeit hat der Aufbau-Verlag selbstverständlich nicht zugelassen, und man weiß exakt, an wen der Brief gerichtet ist – auch wenn es fast ausschließlich Briefe an die Mutter und den Vater sind.
Für LiebhaberInnen Brigitte Reimanns ist dieser Briefwechsel unverzichtbar, wirft er doch ein völlig neues Bild auf die Autorin. Im Fokus steht vor allem ihr schriftstellerischer Prozess, an dem sie ihre Eltern in allen Details teilhaben lässt. So wird deutlich, unter welchem Druck Reimann Zeit ihres Lebens gestanden hat, vor allem in den zehn Jahren, in denen sie an ihrem unvollendeten Roman "Franziska Linkerhand" schrieb. Regelmäßig wurde die Deadline verschoben, weil die Schreibende zusehends unter Schreibblockaden litt, nicht zuletzt, weil sie – anfangs überzeugte Sozialistin – immer kritischer gegenüber dem DDR-Regime wurde. Dies lässt sich vor allem im dreizehnten Kapitel der Franziska nachvollziehen, und bereits während des Schreibens war Reimann klar, dass vor allem dieses Kapitel zensiert werden würde. Aber sie hatte nicht nur mit politischen Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern auch die Partnerschaften und Ehen, die sie einging, zehrten an ihren kreativen Kräften.
Die zweite Ehe mit Siegfried (Daniel) Pitschmann – die Briefausgabe "Jede Sorte von Glück" setzt bewusst erst im Jahr 1960 ein, da Reimann in diesem Jahr ihr Elternhaus verließ – wurde bald zu einem künstlerischen Machtkampf. Pitschmann, selbst Schriftsteller, und Reimann teilten sich bisweilen eine Schreibmaschine, da eine zweite nicht aufzutreiben war. Dass dies der Kreativität nicht nützlich sein kann, liegt auf der Hand. Aber Reimann war auch eine ungestüme, leidenschaftliche und sicherlich auch schwierige Person, die die Männer trotz allem wie eine Sirene magisch anzog. Nach Ehemann Nummer Zwei folgte 1964 Jon K., der sich allerdings eher als Hobby-Schreiber verstand. Die beiden führten ein ungewöhnliches Eheleben, denn trotz Heirat lebten sie in unterschiedlichen Wohnungen, was wiederum zuträglich für den Schreibprozess war. Allerdings hatte Brigitte Reimann zu diesem Zeitpunkt schon mit ihrem Lebensprojekt "Franziska Linkerhand" begonnen, das sowohl lebens- und sinnstiftenden Antrieb bedeutete, gleichzeitig aber auch zu physischen und psychischen Krankheiten führte. Reimann, als Mädchen bereits an Kinderlähmung erkrankt, hatte diverse Krankheiten, von denen der Krebs schließlich ihr Ende bedeutete. Für sie war der Prozess des Schreibens, der einzige Weg, sich gegen viele Einschränkungen, Schmerzen und Krankenhausaufenthalte zur Wehr zu setzen - gleichzeitig hat sie das Schreiben wohl auch krank gemacht. Immer von Geldsorgen belastet, die bange Frage, ob sie die Deadline des Verlages einhalten und das Buch überhaupt zu seinem Ende bringen würde, sind die maßgeblichen Inhalte der Briefe an die Eltern. Spannend ist es, zeitgleich die Tagebücher zu lesen, denn dann wird klar, wie gefiltert die Informationen sind, die Reimann ihren Eltern zukommen lässt.
Ehemann Nummer Vier wird Reimann schließlich als Witwer zurücklassen. Der Mann, der mit Literatur gar nichts anzufangen wusste, konnte ihr weder intellektueller Gefährte noch Lebensretter sein.
Brigitte Reimann starb am 20. Februar 1973 in Berlin, ohne "Franziska Linkerhand" fertigstellen zu können. Ein Jahr später veröffentlichte der Verlag Neues Leben den unvollendeten Roman, nicht ohne dabei in vielen Teilen Zensur anzuwenden. Dies wurde in seinem ganzen Ausmaß allerdings erst deutlich, als 1998 im Aufbau-Verlag die unzensierte Original-Fassung erschien.
Brigitte Reimann im Netz: www.brigittereimann.de
Weiterlesen: "Franziska Linkerhand" Roman und "Alles schmeckt nach Abschied" Tagebücher von Brigitte Reimann
Zur Autorin: Brigitte Reimann, geb. 1933 in Burg bei Magdeburg, war Lehrerin und seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Frau am Pranger (Erzählung, 1956), Ankunft im Alltag (Erzählung, 1961), Die Geschwister (Erzählung, 1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (Roman, 1974, vollständige Neuausgabe 1998). (Quelle: Verlagsinformationen)
Reimann hat nicht nur Romane und Erzählungen geschrieben, sondern auch Hör- und Fernsehspiele. Sie war Teilnehmerin bei nationalen SchriftstellerInnentreffen, beispielsweise der II. Bitterfelder Konferenz, sowie bei internationalen Tagungen. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste .
AVIVA-Tipp: "Jede Sorte von Glück" ist unverzichtbar für Reimann AnhängerInnen, geben sie doch einen noch tieferen Einblick in den Menschen und die Autorin, als es die Tagebücher vermögen. Das Spannende ist vor allem, hautnah mit den Schwierigkeiten der Arbeit einer Schriftstellerin konfrontiert zu sein, die letztendlich nichts anderes bedeuten als "Nach dem Satz ist vor dem Satz".
Brigitte Reimann
Jede Sorte von Glück
Briefe an die Eltern
Herausgeberinnen: Heide Hampel, Angela Drescher
Aufbau-Verlag, erschienen Juni 2008
Gebunden, 459 Seiten
ISBN: 9783351032470
24,95 Euro