AVIVA-Berlin >
Kunst + Kultur > Film
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 05.10.2020
Im Stillen Laut. Kinostart: 8. Oktober 2020
Ellen Katz
Intimes Portrait eines älteren Frauenpaares, das sich in der Mark Brandenburg einen mühevoll erkämpften Freiraum geschaffen hat. Dokumentarfilm-Regisseurin Therese Koppe und ihre Kamerafrau Annegret Sachse beobachten ruhig und präzise ihren Alltag.
Die Künstlerin Erika Stürmer-Alex und ihre Lebenspartnerin seit vierzig Jahren, die Theologin Christine Müller-Stosch, leben auf ihrem Kunsthof Lietzen, umgeben von einer idyllischen Landschaft mit mindestens drei Katzen und einem Hund. Es ist Herbst, und immer wieder hören und sehen wir Kraniche auf den Feldern und am Himmel. Bilder großer Ruhe und Schönheit. Die Kamera folgt den Frauen in ihrem Alltag. Beim Malen, in der Küche, beim Holzhacken, sogar bis in die Dusche, ohne auch nur annähernd voyeuristisch zu sein.
Eine der ersten Einstellungen zeigt die Frauen beim Vorlesen eines weitgehend erfundenen, bösartigen Stasiberichts, der sie aus ihrem damaligen Domizil vertreiben und ihren Kontakt zu ihrem Umfeld zerstören sollte. Sie lachen Tränen dabei, denn gelungen ist das nicht. Im Gegenteil erweist sich die staatliche Repression als Glück im Unglück. Nach langem Suchen finden sie ein stark baufälliges, verlassenes Herrenhaus, groß genug für ihre Pläne, dass sie dank einer verkauften Skulptur aus Erikas Werkstatt vom Staat erwerben und eigenhändig bewohnbar machen können. Kunst hatte in der DDR einen anderen Stellenwert und war gesellschaftlicher Auftrag. Sie wurde ernst genommen, aber war sie nicht konform, eben auch als Bedrohung eingeordnet.
Erika erhält unerwartet die Möglichkeit, zu einer Ausstellung nach Paris zu reisen. Sie kann ihr Glück kaum fassen. Ungetrübt ist es allerdings nicht. So beschreibt sie im Zusammenhang mit ihren Eindrücken der Pariser Kunstausstellung, sie habe sich ´wie ein Gefangener gefühlt, der aus Brotresten Figuren formt, aber von Michel Angelos David träumt und dann plötzlich davorsteht. Da musste ich mich beherrschen, nicht loszuheulen´. Das bezeugt die Ernsthaftigkeit ihrer Arbeits- und Lebenseinstellung, die sie mit Christine teilt. Zu ihr kehrt sie zurück, sieht ihren Platz in der DDR und nicht im Ausland, wo bei so vielen schönen Dingen Kunst nicht wirklich gebraucht wird. Im Hinblick auf einige ihrer Kolleg*innen sagt sie: ´Es reicht doch nicht, Kunst nur als Gegenteil zur staatlich verordneten Auffassung zu produzieren. Ohne Inhalt bleibt sie leer´.
´Phantasie entwickeln, wozu wir jetzt frei geworden sind´
Dann bricht die Wende über ihre friedliche Nische herein. Die Spaltung des Landes wird für beide deutlicher als je zuvor. Der evangelische Verlag, bei dem Christine als Lektorin und unfreiwillige Zensorin seit 25 Jahren arbeitet, wird abgewickelt. Die früheren Besitzer*innen ihres Hauses bzw. deren Erb*innen beanspruchen Rückübertragung. Nach zehn Jahren juristischem Ringen wird Erika endlich als Eigentümerin anerkannt. Nun können sie auch anderen Frauen ermöglichen, ihre Kreativität zu entwickeln und ihre Kraft zu entdecken.
Privilegien
Ein Gespräch der beiden bleibt besonders haften. Es geht um Privilegien, und da sind sie schon bei der Definition des Begriffs unterschiedlicher Meinung. Dazu kommt, dass Christine sich als eine von Hause her Oppositionelle sieht, der als ´Staatsfeindin´ nur Steine in den Weg gelegt wurden. Erika dagegen bekennt sich dazu, in der DDR trotz allem privilegiert gewesen zu sein, nicht wie jene Frauen, die nur einen ermüdenden Job und keine Freude in ihrem Alltag hatten. Diese hatten ja ´nicht mal ein Restaurant, wo man sich stilvoll besaufen konnte,´ sagt sie mit einem verschmitzten Lachen.
Therese Koppe verlässt sich ganz auf die Schönheit der Bilder und auf den patenten, humorvollen Charme ihrer Protagonistinnen. Schwarzweißfotos, die sie als junge Frauen inmitten fröhlicher, phantasievoller Kunstaktionen zeigen, sowie farbige Fotos von Erika, bei ihrer Parisreise aufgenommen, vermitteln viel Neugier und Lebensfreude.
Es gibt keine gesetzten Interviews, wenige Gespräche, die aber umso mehr nachwirken. Christine liest im Off aus ihrem Tagebuch. Ihre Notizen bilden den roten Faden der Narration. Als Stilmittel unterstreicht das sehr wirkungsvoll den Titel Im Stillen laut. Und doch bleibt der Eindruck, dass etwas fehlt. Die Zuschauerin erfährt zwar beiläufig, dass Christine - eine Pfarrerstochter - nur unter großen Mühen Theologie studieren konnte. Es scheint, als hätte es vor ihrem gemeinsamen Leben nichts gegeben, keine Herkunftsfamilien-Geschichte, keine NS-Zeit, in die sie hineingeboren wurden, oder eben eine Auseinandersetzung damit, die in der DDR zwar früher stattfand als im Westen, aber nicht minder mangelhaft und in den Dienst der Interessen der Partei gestellt war. In dieser Hinsicht ist Therese Koppes sensibler und einfühlsamer Film dann doch zu verschwiegen. An ihren offenen Protagonistinnen liegt das gewiss nicht.
AVIVA-Tipp: Ein Film, in den frau sich hineinfallen lassen kann, und der Lust macht, die beiden gleich zu besuchen. Vielleicht würden sich dabei ja Gespräche ergeben über Themen, die der Film ausblendet.
Zur Regisseurin: Therese Koppe (Regie/Buch/ ausführende Produzentin) wurde 1985 in Berlin-Friedrichshain geboren. Nach ihrem Studium der Soziologie und Filmwissenschaft (2011) arbeitete sie als Regieassistentin am Theater. Über das Leonardo-Da-Vinci-Programm war sie 2011 für mehrere Monate beim Filmfestival Documentarist – Documentary Days in Istanbul tätig. Ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung brachte sie 2012 für einen Master in Documentary Practice nach London, den sie mit ihrem kurzen Dokumentarfilm "All Points North" (2013) abschloss. Er feierte 2013 seine Premiere beim Which Human Rights? Filmfestival in Istanbul. Therese arbeitete seitdem für diverse Kunst- und Kulturprojekte im In- und Ausland (u.a. für die Ausstellung "77#13 – Politische Kunst im Widerstand in der Türkei" der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin und der Türkei). Seit 2015 studiert Therese im Master Dokumentarfilm Regie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Neben ihrer Arbeit als Regisseurin unterrichtet Therese als Dozentin Dokumentarfilmtheorie und -praxis, zuletzt an der London Southbank University (2018-2019). Im Filmbildungsprogramm Cinema en Curs leitet sie als Filmemacherin Dokumentarfilm-Workshops für SchülerInnen. Für die Entwicklung ihres Debütfilms "Haunting Heimat" (AT), ein Portrait zweier namibischer Frauen und ihrer Perspektive auf das Erbe deutscher Kolonialherrschaft, erhielt sie mit ihrer Ko-Autorin Lisa Skwirblies 2019 die Grenzgänger-Rechercheförderung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) und der Robert-Bosch-Stiftung.
Filmografie
2013 All Points North (Kurz-Dok)
2018 Herr und Frau Dettmann (Kurz-Dok)
2019 Im Stillen laut (Dok)
2020 Haunting Heimat (AT) (in Entwicklung)
IM STILLEN LAUT
D 2019
Regie, Drehbuch und ausführende Produktion: Therese Koppe
Mit: Erika Stürmer - Alex und Christine Müller - Stosch
Kamera: Annegret Sachse
Schnitt: Evelyn Rack
Musik: Irma Heinig
Produktion: Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF
74 Minuten OF
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 8. Oktober 2020
Mehr zum Film unter: salzgeber.de/imstillenlaut
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin
Uferfrauen. Lesbisches L(i)eben in der DDR. Dokumentarfilm von Barbara Wallbraun
Im dreißigsten Jahr nach der deutschen Einheit zeigt Barbara Wallbraun mit ihrem Dokumentarfilm, wie die Lebens- und Liebenserfahrungen von Lesben in der DDR bis heute nachwirken. Ihre Interviewpartnerinnen wurden in einer Zeit erwachsen in der eine lesbische Identität offiziell nicht existierte und es deshalb für ihre Gefühle auch keine Worte gab. Meist in strahlendem Sonnenschein gedreht, blicken die Frauen heute erfrischend selbstsicher auf ihren nicht immer einfachen Lebensweg zurück. (2020)
Jalda und Anna - Erste Generation danach
ne Wohnung in Berlin wird renoviert, die alten Tapeten heruntergerissen. Die neuen Bewohnerinnen arbeiten intensiv, entfernen Schicht um Schicht. Die beiden Frauen, Jalda Rebling und Anna Adam ein Frauenpaar, die sich ihre neue Wohnung einrichten wollen. (2013)
Susanne Kalka und Helene Traxler - Lesbisch feministisch sichtbar - Role Models aus dem deutschsprachigen Raum
Leider ist es im Jahr 2020 immer noch nicht selbstverständlich, offen lesbisch zu leben. Auch wenn sich die gesellschaftliche Situation im Gegensatz zum letzten Jahrhundert zwar verbessert hat, so ist die Gegenwart vor allem durch patriarchale Heteronormativität geprägt und das Coming-Out wird vielen Lesben schwer gemacht. In der queeren Welt stehen vor allem schwule Männer im Fokus und nicht lesbische Frauen. (2020)