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Beitrag vom 28.02.2010
Wiegenlieder - Ab 25. Februar 2010 im Kino
Tatjana Zilg
Im Panorama der 60. Berlinale zeigten Tamara Trampe und Johann Feindt ihre poetisch-assoziative Doku über Menschen aller Couleur in Berlin und ihre Erinnerungen an die Wiegenlieder der Kindheit.
Das größte Publikumsfilmfestival der Welt beweist es schon seit einigen Jahren: Dokumentarfilme werden immer beliebter und die FilmemacherInnen finden im Gegenzug zu immer vielseitigeren Gestaltungsweisen.
Tamara Trampe und Johann Feindt entschieden sich fünf Jahre nach ihrer eindringlichen Doku "Weisse Raben - Alptraum Tschetschenien", ein intuitives Porträt zu drehen über die unterschiedlichen Menschen, die in Berlin nebeneinander leben. Zum Ausgangspunkt wurde die Frage, ob sich das Gegenüber an ein Wiegenlied erinnert, das die Mutter in der Kindheit gesungen hat. So ergaben sich die verschiedensten Situationen. Manch eine(r) suchte vergeblich in der Erinnerung, anderen fällt sofort eines ein, manche lachten verlegen und trauten sich nicht, vor der Kamera zu singen.
Die beiden FilmemacherInnen begleiten die Menschen zum Teil in ihre Wohnumgebungen, die vom Bauwagen über Hochhaus- und Altbauwohnungen bis zu kleinsten Apartments reichen.
In ausführlichen Gesprächen mit einigen ProtagonistInnen offenbaren sich die Verletzungen der Kindheit und auch die positive Kraft, sich mit dem Erlebten neu auseinander zu setzen und Erkenntnisse zu teilen. Tamara Trampe führt in sensibler, aber nicht lockerlassender Art ihre Gespräche, so dass die poetischen Momentaufnahmen von Berlin und seinen StadtbewohnerInnen sich mit nachdenklich stiftenden und melancholisch stimmenden Gesprächsausschnitten verflechten, durch die sich neue Blickwinkel auf die Kindheit und all ihre unerfüllten Sehnsüchte eröffnen.
Da ist der etwa 50jährige Detlef Jablonski, der nur wenig über seine Mutter sagen kann, denn er wuchs bei Pflegeeltern auf, materiell gut versorgt, aber emotional stark vernachlässigt. Ohne großes Selbstmitleid, aber sehr plastisch und nachvollziehbar lässt er daran teilhaben, wie dies sein gesamtes Leben beeinflusst hat und mit welchen Gefühlen er heute darauf zurückschaut.
Eine Kindheit, die eine ganz spezielle Beziehung zur Welt der Töne initiierte, erfuhr der heutige Komponist Helmut Oehring, da seine Eltern taubstumm waren.
Für den tschetschenischen Exilpolitiker Apti Bisultanov ist die Kindheit durch die Fluchterfahrung weit in die Ferne gerückt. Nach anfänglichem Zögern schildert er mit einer hohen Intensität seine letzten Erlebnisse in der Heimat.
Diese drei Menschen werden zum roten Faden innerhalb der szenischen Einstellungen und Bilder, denn sie tauchen immer wieder auf zwischen den vielen kurzen und längeren, anmutigen und anrührenden Kamerablicken auf Menschen jeden Alters in den Straßen Berlins, wobei Mütter und ihre Kinder in den Momentaufnahmen immer wieder eine besondere Rolle spielen. Auch der junge Haftentlassene Santos kommt längere Zeit zu Wort und es überrascht, mit welch inniger Nähe er von seinem neugeborenen Sohn spricht, obwohl die Beziehung zu der Mutter schon längst in die Brüche ging. Er lädt die FilmemacherInnen in seine kleine Wohnung ein, wo er aber nicht mehr von sich erzählt, sondern einen selbst geschriebenen Rap-Song über die Liebe zu seinem Kind performt.
Die Musik in all ihren Ausdrucksformen legt sich in einer zeitlosen Leichtigkeit über den Film und verbindet die Bilder auf eine zarte, unaufdringliche Art miteinander.
So kommt es zu einem unerwarteten Höhepunkt, wenn ein bunt gemischter Chor nach ausgiebigen stimmlichen Warm-Ups unter der Leitung von Jocelyn B. Smith gehaltvolle Gospels intoniert.
AVIVA-Tipp: "Wiegenlieder" ist ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm, der sein Publikum einlädt zu einem impressionistischen Spaziergang durch die Straßen, Plätze und Häuser von Berlin. An mancher Stelle nehmen sich die FilmemacherInnen Zeit, länger zu verweilen und den Hintergründen nachzuspüren. An anderer Stelle heben sie pointiert und ausdrucksstark in kurzen Essenzen die vielen kleinen Besonderheiten der Stadt und ihrer BewohnerInnen hervor. So verweben sich die vielen Sinngebungen des Mythos Kindheit mit dem einzigartigen Lebensgefühl von Berlin.
Wiegenlieder
Deutschland 2009
Regie: Johann Feindt und Tamara Trampe
Länge: 98 Minuten
Filmstart: 25.02.2010
Verleih: Ventura
Lesen Sie auch unser Interview mit der Regisseurin Tamara Trampe.
Weitere Infos zum Film finden Sie unter: www.zeroone.de