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Beitrag vom 06.06.2011
Bibliothèque Pascal - Ein Film von Szabolcs Hajdu mit Orsolya Török-Illyés
Evelyn Gaida
Fantasie ist nicht Realität und Realität ist keine Fantasie? Der ungarische Regisseur Szabolcs Hajdu mixt innere und äußere Bilder zu einem farbintensiven Cocktail, in dem Projektion und ...
... Wirklichkeit einander nicht nur spiegeln, sondern auch bedingen.
Inspiriert von David Lynch oder Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut", darüber hinaus von der farbenprächtigen Folklore Osteuropas, von Jahrmärkten, WahrsagerInnen, Straßenkunst und Malerei, entwickelt Hajdu eine faszinierende Bildlichkeit. Und überlässt sich ganz dem Willen seiner Bilder: In diesem Film sind sie nicht der Handlung unterworfen, sondern scheint die Handlung aus den Bildern erst hervorzugehen. Wie im (Alp-)Traum wandeln die Charaktere durch Szenarien eines magischen bis verstörenden Realismus.
Die Geschichte beginnt am nüchternsten Ort der Welt: auf dem Amt. Mona (Orsolya Török-Illyés, "Off Hollywood", "Tamara") möchte das Sorgerecht für ihre dreijährige Tochter wiederhaben. Das Mädchen befand sich zwischenzeitlich in der "Obhut" ihrer Tante (Oana Pellea, "White Palms", "Children Of Men"), die ihm Alkohol einflößte und aus seinen Kunststücken Kapital schlug. Mona muss nun Rechenschaft darüber ablegen, wie es dazu kommen konnte und wo sie sich während dieser Zeit aufhielt.
Die Szene wechselt, das Licht, die Farben tragen die ZuschauerInnen hinein in den Gedankenfluss der Erinnerung. Auch die Protagonistin wird planlos von einem surreal erscheinenden Ereignis zum nächsten gespült: Monas Eifersuchtsdrama mit ihrem Freund samt Platzregen ruinieren ein Dorffest, auf dem die beiden StraßenkünstlerInnen auftreten sollten. Mona zieht weiter zum Strand, wo der Ärger erst richtig anfängt. Neben ihr hat sich der flüchtige Kriminelle Viorel (Andi Vasluianu, "Jugend ohne Jugend") in den Sand eingegraben und nimmt sie als Geisel mit in eine Ferienhütte. Seine besondere Gabe: Träume Gestalt annehmen zu lassen, die für andere Menschen sichtbar werden, während er schläft. Die schlaflose Mona und er kommen sich näher, doch es bleibt bei einem One Night Stand. Am nächsten Tag wird Viorel von der Polizei gestellt und erschossen. Hajdu zelebriert hier demonstrativ die Manipulationskraft seines eigenen Mediums. Viorels Tod wird von einem jazzig klimpernden Soundtrack begleitet, der blutig durchsiebte Rücken mit nonchalanter Leichtigkeit des Seins unterlegt.
Mona ist schwanger und schlägt sich weiterhin mit Jobs auf Jahrmärkten durch. Als ihre Tochter das Kindergartenalter erreicht hat, begegnet die junge Mutter ihrem eigenen Vater (Razvan Vasilescu, "Gainsbourg") wieder. Er gibt vor, schwer krank zu sein und sie unbedingt als Begleitung zu einem wichtigen Untersuchungstermin in Deutschland zu benötigen. Diese Reise führt jedoch nicht zum Arzt, sondern zu Menschenhändlern. Mona wird nach Liverpool verschleppt, dort vom erfolgreichen Unternehmer Pascal (Shamgar Amram) gekauft und in seine "Bibliothek" mitgenommen – ein Designer-Bordell. Laut Betreiber Anlaufstelle "für die Crème de la Crème, die gute Gesellschaft. Schauspieler, Würdenträger, Künstler." Diese können sich hier aus dem sadistisch entstellten Fundus der Weltliteratur `bedienen´, finden in bizarr dekorierten Gefängniszellen "Saint Joan" mit rasiertem Kopf und Militärkluft vor, oder werden von "Desdemona" im Latex-Ganzkörperanzug stets mit "Aye, mein Herr" angeredet.
Die Ideen für die Ausgestaltung dieses zynischen Luxusbordells hat der Regisseur nach eigener Aussage dem Internet entnommen, wo er nach den "extremsten Dingen" gesucht habe: "Für mich ist es auch sehr spannend, auf welche Weise das Internet fähig ist, Menschen auf alle möglichen Arten zu beeinflussen, zum Beispiel ist es sehr einfach, sich zurückzulehnen und die wildesten Sexpraktiken zu verfolgen", so Hajdu. Er lässt Monas Martyrium als schweigenden Horrortrip wie in einem Videoclip ablaufen, worin sich Szene an Szene, Bild an Bild reiht, und simuliert auf diese Weise die innere Haltung des besagten Zurücklehnens. Ein auswegloses, isoliertes Grauen im Schaukasten. Letzte Details werden den ZuschauerInnen erspart, eine Ausschlachtung findet nicht statt, doch die Grenze zwischen Kritik am Voyeurismus und Voyeurismus ist nicht klar zu orten. Monas Leid wird aus der Distanz eines ungläubigen Schockzustands oder eines Alptraums dargestellt, nicht als unmittelbares Erleben. Die Herrschaft der Bilder über die Charaktere ist an dieser Stelle ebenso Problem wie Thema des Films.
AVIVA-Tipp: "Bibliothèque Pascal" wird insgesamt nicht nur von Farbenpracht und außergewöhnlichen Bildschöpfungen getragen, sondern von der starken Hauptdarstellerin Orsolya Török-Illyés. Die ZuschauerInnen einem opulenten Bildfluss mit spärlichen Dialogen zu überantworten, könnte auch zum Bummelzug in die Langeweile geraten, doch die charismatische Schauspielerin stellt einen markanten Fokus. Die rauhe, lebenserfahrene Zähigkeit ihres Filmcharakters steht in einer ständigen Spannung zur kontinuierlich gesteigerten Gewalt der äußeren Umstände. Mehr emotionales Gewicht wäre jedoch nicht nur der Hauptdarstellerin zu wünschen gewesen, sondern auch dem Film als Ganzes.
Zum Regisseur: Szabolcs Hajdu wurde 1972 in Debrecen/Ungarn geboren. Er studierte am Ungarischen Filminstitut. Sein erster Kinospielfilm STICKY MATTERS aus dem Jahr 2001 erhielt 2003 den Preis als bester Erstlingsfilm auf dem Ungarischen Filmfestival und den Spezialpreis der Jury auf dem Molodist Film Festival in Kiew. TAMARA (2004) wurde auf dem portugiesischen Film Festival Avanca 2005 als bester Film geehrt. Hajdus Film WHITE PALMS (2006) wurde national und international mehrfach ausgezeichnet und basiert auf autobiografischen Gegebenheiten des Regisseurs. Auf der 37. Ungarischen Filmwoche gewann das Drama den Preis für den besten Regisseur, den besten Produzenten, die beste Kamera, den besten Schnitt, den Publikumspreis und den Gene Moskowitz Preis der ausländischen Presse. Momentan arbeitet Hajdu an seinem nächsten Projekt THE GAMBLER, der 2012 in die Kinos kommen soll. (Quelle: Camino Filmverleih)
Zur Hauptdarstellerin: Orsolya Török-Illyés wurde 1977 in Siebenbürgen/Rumänien geboren. Sie ist nicht nur die Ehefrau des Regisseurs, sondern auch seine Muse. Török-Illyés hat in allen Filmen von Hajdu eine Hauptrolle übernommen, arbeitet aber auch hinter der Kamera intensiv an den Filmprojekten mit. So hatte sie u.a. das Drehbuch zu dem TV-Film "Off Hollywood" mit Hajdu zusammen geschrieben und wird bei seinem nächsten Projekt THE GAMBLER wieder vor der Kamera stehen. (Quelle: Camino Filmverleih)
Bibliothèque Pascal
Ungarn / Deutschland 2010
Buch und Regie: Szabolcs Hajdu
DarstellerInnen: Orsolya Török-Illyés, Oana Pellea, Razvan Vasilescu, Andi Vasluianu, Shamgar Amram u.a.
Verleih: Camino
Lauflänge: 111 Minuten
Kinostart: 09. Juni 2011
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.bbp-film.de
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