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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.07.2011


Nader und Simin - Eine Trennung
Evelyn Gaida

Der iranische Berlinale-Gewinner 2011 begeistert auf der ganzen Linie. Regisseur und Drehbuchautor Asghar Farhadi zeigt sich als Meister seelischer Feinarbeit, in der sich gleichzeitig ...




... und völlig unbemüht die Einwirkungen eines religiös-diktatorischen Staatssystems ausdrücken. Unterstützt wird Farhadi von einem großartigen SchauspielerInnen-Ensemble, das zwei Silberne Bären mitnehmen durfte.

Der Titel ist in gewisser Weise irreführend und lässt "Kramer gegen Kramer"-Trennungsstress vermuten. Eine Trennung im Iran ist jedoch selbstverständlich keine Trennung in den USA. Aber auch nicht unbedingt das, was westliche ZuschauerInnen sich darunter vorstellen mögen, denn: Nader und Simin lieben einander. Simin (Leila Hatami) möchte das Land verlassen, um der 11-jährigen Tochter (Sarina Farhadi) des Paares eine bessere Zukunft zu ermöglichen, Nader (Peyman Moadi) will seinen an Alzheimer erkrankten Vater (Ali-Asghar Shahbazi) nicht zurücklassen. Ein Zwiespalt, der ihre Ehe zum Scheitern bringt. All das ist Ausgangssituation einer unvorhersehbaren Entwicklung von Ereignissen und Zusammenhängen, die den Atem stocken lassen.

Nader und Simin begegnen den ZuschauerInnen bereits zu Beginn aus verblüffender Perspektive: der Position des ausgeblendeten Scheidungsrichters, einer unsichtbaren Entscheidungsmacht. Frontal sitzen die Eheleute gegenüber, aufgeregt diskutierend, in auswegloser Situation, am Ende ihrer Nerven. Für den Richter (Babak Karimi) ein geringfügiges Problem. Nader schlägt Simin nicht, ist kein Drogenabhängiger und verweigert ihr keine finanzielle Unterstützung. Die Scheidung wird abgelehnt. Statt ins Ausland, zieht Simin zu ihren Eltern. Tochter Termeh erleidet die Zerrissenheit der meisten Trennungskinder und möchte ihren Vater nicht verlassen. Schmucklose Szenen, subtil aufgeladen mit Tragik, Konflikt und Komplexität, entfalten sich so natürlich, als schaue man dem Leben selbst zu. Die zitternde Hand des senilen alten Schwiegervaters, der Simin nicht loslassen will, als sie fortgeht, schneidet nicht nur der Schwiegertochter ins Herz.

Die emotionale Dramatik der Charaktere steht unter dem spürbaren Auge einer ständigen, bedrohlichen Präsenz – der religiösen Staatsgewalt. Unterschwellig immer anwesend, eine gräuliche Schwingung, der auch das grell-dunstige Licht entspricht. Jede Situation ist ein potenzieller Abgrund, kann zum verhängnisvollen Skandal mit fatalen Konsequenzen werden. So folgt dem Trennungsfall bald eine Anklage des Totschlags. Nader stellt nach Simins Auszug Razieh (Sareh Bayat), eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen, zur Pflege seines Vaters ein. Schon am ersten Tag sieht Razieh sich mit einer Flut von Problemen überhäuft: Durch ihre beginnende Schwangerschaft ist sie körperlich überfordert, das Umziehen und Waschen des alten Mannes stürzt sie in religiöse Konflikte, ihre kleine Tochter (Kimia Hosseini) muss sie mit zur Arbeit bringen. Zudem weiß ihr arbeitsloser und hoch verschuldeter Ehemann (Shahab Hosseini) nichts von ihrer Tätigkeit. Der Blickwinkel einer benachteiligten Gesellschaftsschicht hält Einzug in das Schicksal einer Mittelklasse-Familie.

Als Nader nach einigen Tagen verfrüht von der Arbeit kommt, findet er seinen Vater ans Bett gebunden und bewusstlos vor. Razieh ist kurz darauf wieder zurück, sie musste dringend zu einem Termin, der Vater habe geschlafen, beschwört sie ihn. Nader stößt sie wütend aus der Wohnung. In den folgenden Tagen werden sie sich erst im Krankenhaus, dann vor Gericht wiedersehen. Razieh hat ihr Kind verloren, ihr Ehemann beschuldigt Nader des Mordes, sodass dem Angeklagten bis zu drei Jahre Haft drohen. Nur durch eine horrende, von Simin aufgebrachte Kaution wird er vorerst aus dem Gefängnis entlassen.

Wusste Nader von Raziehs Schwangerschaft? Hat sie ihr Kind tatsächlich durch den Stoß verloren? Im Zuge der Auseinandersetzungen schreitet Farhadi mit seinen Figuren den schmalen Grat zwischen Wahrheit und (Not-)Lüge, Stolz und Vorurteil ab, zeichnet nicht nur Bruchstellen, sondern zitternde Risse im Gewissen und in den Gesichtern seiner ProtagonistInnen nach, deren Psychologie er feinnervig ausleuchtet. Klischees werden bestätigt und doch widerlegt, aufgebrochen von den zahllos widersprüchlichen Facetten der Wirklichkeit, die sich dem Begriff "Wahrheit" erst annähern können. Farhadi eröffnet multiple Dimensionalität wie in einem Spiegelsaal, auf den er durch betrachtende Ansichten in Glasscheiben und Rückspiegeln auch explizit verweist. Als ultimative Steigerung solcher Referenzen auf das Zuschauen sind immer wieder die großen Kinderaugen von Termeh und Raziehs Tochter zu sehen, in die das aufrührende und überfordernde Geschehen ungefiltert einsinkt. Die involvierten Personen sind zusätzlich durch die Furcht vor einem repressiven System bedrängt, das sich einer Vielfalt der Perspektiven drakonisch verweigert. Zutage befördert wird dennoch etwas universell Menschliches, das über jeden Staat und Kulturkreis hinausreicht.

AVIVA-Tipp: Asghar Farhadis persönlicher Stil eines höchst kunstvollen, dokumentarischen Naturalismus macht jede Szene zum Ereignis, sei es durch einen Dialog, einen Blick, eine Bemerkung, einen Gegenstand. Je leiser, schmuckloser er unter Verzicht auf Schockeffekte vorgeht, desto expressiver, vielschichtiger und lauter werden seine Bilder. In Farhadis Berlinale-gekröntem Film "Nader und Simin – Eine Trennung" gibt es im Grunde keine Nebenfiguren oder Nebensächlichkeiten. Mühelos fügt sich eins zum anderen, als hätte sich das Leben selbst die Handlung ausgedacht. Ein meisterhaft nuanciertes Gewebe der Bezüge, Blickwinkel und Zusammenhänge, das eine tiefe Menschenkenntnis ausspricht und von den SchauspielerInnen überragend ausgefüllt wird.

Zum Regisseur: Asghar Farhadi wurde 1972 in Isfahan, Iran, geboren. Bereits zu Schulzeiten entdeckte er sein Interesse am Schreiben, an Dramen und am Kino. Er belegte Seminare bei der Iranian Young Cinema Society und begann seine Karriere als Filmemacher mit 8mm und 16mm Filmen. 1998 schloss er sein Studium mit einem Master in Regie an der Universität von Teheran ab. 2001 schrieb Farhadi das Drehbuch zu Ebrahim Hatamikias großem Kinoerfolg "Low Heights". Zwei Jahre später wagte Farhadi sein Regiedebüt mit "Dancing in the Dust". Es folgten 2004 "The Beautiful City" und "Fireworks Wednesday" 2006. Mit "Elly ..." gewann Asghar Farhadi den Silbernen Bären als bester Regisseur bei der Berlinale 2009. "Nader und Simin – Eine Trennung" ist sein fünfter Spielfilm.
(Quelle: Alamode Film)

Nader und Simin – Eine Trennung
Originaltitel: Jodaeiye Nader az Simin
Iran 2011
Buch und Regie: Asghar Farhadi
DarstellerInnen: Leila Hatami, Peyman Moadi, Shahab Hosseini, Sareh Bayat, Sarina Farhadi, Babak Karimi, Ali-Asghar Shahbazi, Shirin Yazdanbakhsh, Kimia Hosseini, Merila Zarei
Verleih: Alamode Film
Lauflänge: 123 Minuten
Kinostart: 14.07. 2011

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.nader-und-simin.de

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Beitrag vom 14.07.2011

Evelyn Gaida