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Beitrag vom 05.12.2011
Unten Mitte Kinn. Kinostart 8. Dezember 2011
Lisa Scheibner
Theateralptraum. Etwas muss gespielt werden, doch niemand weiß, wie. Eine Schauspielklasse sieht sich kurz vor ihrem Abschluss mit dem Machtapparat Universität und seinen Intrigen konfrontiert...
...und muss sich die Frage stellen: Sollen wir zusammenhalten, oder uns einzeln um unsere Zukunft kümmern?
Noch zwei Wochen bis zum IntendantInnenvorspiel und alles liegt im Argen: Der Schauspieldozent Borchert (wunderbar abgründig, Fritz Schediwy in einer seiner letzten Rollen), der gleichzeitig auch der Leiter des kleinen Studiengangs Schauspiel an der Kunstuniversität ist, taucht mal wieder gar nicht auf. Es gibt einen Text, Maxim Gorkis "Nachtasyl", aber keine Regie. Die fünf Studentinnen und drei Studenten der Abschlussklasse sind verzweifelt, um nicht zu sagen, hysterisch. Das ist der klassische Theateralptraum in real: auf der Bühne stehen, in ein schwarzes Loch blicken, keine Ahnung haben, was zu tun ist. Die Ansagen widersprechen sich und die DozentInnen schieben alle Verantwortung den Studierenden zu: "Junge, du bist so schlecht, kein Wort glaub ich dir, zum Kotzen!" Und das nach drei Jahren Studium, Hilfe ist nicht in Sicht.
Ist Solidarität unter SchauspielerInnen möglich?
Macht es Sinn, zusammenhalten, oder ist ab hier jede/r selbst für ihre/seine Zukunft verantwortlich? Werden die Studierenden Unterstützung bekommen, wenn sie die Sache an die ganz große Glocke hängen, und sich bei der Universitätsleitung beschweren? Sie organisieren eine neue Dozentin (Ursula Werner), doch schon bald werden Intrigen gesponnen. Der Machtapparat Universität funktioniert auf seine ganz eigene Weise, eine externe Lehrerin hat hier eine harte Zeit.
Die SchauspielerInnen in Nicolas Wackerbarths Film befinden sich in einer ähnlichen Paniksituation wie die StudentInnen, die sie darstellen: Der gesamte Film ist improvisiert, gedreht innerhalb eines Monats im Sommer 2010, im Gebäude der Universität der Künste, Berlin. Das erzeugt eine besondere Energie, denn niemand weiß, was als Nächstes geschieht, es ergeben sich Handlungsstränge, die später nicht weiter verfolgt werden, nie ist sicher, wer wie reagieren wird oder wie die Geschichte ausgeht. Ein angespanntes Stop-and-Go zwischen Abwarten und Drauflosspielen, das die DarstellerInnen professionell bewältigen und das eine auch als Zuschauerin ganz nervös macht. Es gelingt Wackerbarth und seiner Crew hervorragend, die zermürbende Atmosphäre auf das Publikum zu übertragen. Wackerbarth selbst bezeichnete seinen Film als "etwas psychotische, ja beklemmende Komödie", was es ganz gut trifft, denn das drohende Desaster erzeugt seine ganz eigene Komik.
Zum Spielen in den Keller gehen
Die Story spielt in Ulm, der Studiengang Schauspiel soll, wie so häufig, schon seit Jahren geschlossen werden. Ob die Evaluation des desolaten Ausbildungszweigs wirklich Verbesserung desselben im Sinn hat, bleibt fraglich. Zu wenig erfolgreiche Stars werden hier produziert, kein Wunder, denn zum Abschlussvorsprechen kommt ohnehin kaum jemand der/die Einfluss hat. Oder war es andersherum? Borchert klebt manisch-aggressiv an seinem Chefsessel und ergeht sich in unfairen Machtspielchen mit den von ihm Abhängigen.
Während Nele (Anne Müller) sich selbst eine Dozentin organisiert, will Katharina (Kathleen Morgeneyer) die ganze Klasse zusammenbringen, um die frustrierenden Zustände öffentlich zu machen. "Du organisierst hier irgendwie ´ne Revolution, die niemand will!" wirft Nele ihr daraufhin vor. Die anderen bewegen sich emotional zwischen aufmüpfig, bemüht hoffnungsvoll und von der Leitung eingeschüchtert. Jochen (Ole Lagerpusch) geht zum Spielen in den Keller, sprichwörtlich. Keine Spur von einer geschützten Probenatmosphäre, in der mensch sich "öffnen" könnte. Die Studierenden werden mit hohlen Phrasen abgespeist und wenn die DozentInnen versuchen, sie durch Provokationen anzuspornen, wirkt dies eher sadistisch motiviert als gut gemeint. "Vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben, ich will doch dein Bestes!"
Die Machtstrukturen innerhalb des Studiengangs wirken abschreckend: sich den offenen Protest zu trauen, ist schier unmöglich, wenn man noch eine Karriere machen möchte. Ein Restchen Solidarität beizubehalten wird unsagbar schwierig. Aber die Klasse denkt nicht daran sich aufzuhängen, wie der Schauspieler in Gorkis Stück, sondern entwickelt inmitten des Chaos eine ganz neue Energie...
"Scheitern als Chance"
"Unten Mitte Kinn" ist nicht nur ein Film über eine Schauspielschule. Er weist auf Hierarchien im Theaterbetrieb (und anderswo) hin, bei denen sich hinter künstlerischen Entscheidungen knallharte Ungerechtigkeiten, unterlassene Hilfeleistung oder Machtmissbrauch verbergen. SchauspielerInnen gelten noch immer als "weisungsgebundene" KünstlerInnen, die in dem Rahmen zu bleiben haben, der ihnen gegeben wird. Die harte Konkurrenz und der große Wunsch, eine/r derjenigen zu sein, die es schaffen, tut ihr übriges, um Widerstand klein zu halten. Wenn man Nicolas Wackerbarth und seine rebellische Filmklasse wörtlich nehmen will, fordert er mit "Unten Mitte Kinn" dazu auf, sich der eingepflanzten Ängste zu entledigen und die Frustration zur Quelle neuer Inspiration auszubauen, "Scheitern als Chance", hat schon Christoph Schlingensief vorgeschlagen. Der Aufstand, der nicht geprobt, sondern durchgeführt wird, ist dann der nächste Schritt, um sich die Macht von den Etablierten zurückzuholen.
AVIVA-Tipp: Eine Abschlussklasse nimmt todesmutig den Kampf mit der Leitung ihrer Schauspielschule auf. Alle Szenen sind von den DarstellerInnen improvisiert. Es gelingt ihnen, realistisch - wenn auch sehr zugespitzt - zu zeigen, wie der Wunsch der jungen SchauspielerInnen "es zu schaffen" von den Verantwortlichen der Institution instrumentalisiert wird, um sie ruhig zu halten. Nicolas Wackerbarths HauptdarstellerInnen sind, im Unterschied zu den StudentInnen, die sie spielen, schon erfolgreich in Theater und Film, hier wurden keine Experimente gewagt. Das Team hat gemeinsam einen zum Zerreißen gespannten Film geschaffen, in dem Panik und Komik gleichzeitig wirksam werden. Ein mitreißendes Plädoyer für Mut gegenüber den Mächtigen, mehr Solidarität auch in sogenannten Traumberufen und die Qualität, in der wortwörtlichen Ent-Täuschung die Kraft für gute Kunst zu finden.
Infos zum Filmteam: Nicolas Wackerbarth, geboren 1973, studierte Schauspiel in München, war am Schauspiel Frankfurt und den Städtischen Bühnen Köln fest engagiert und in Kino- und TV-Filmen zu sehen. 2011 beendete er sein Zweitstudium der Filmregie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und arbeitet seitdem als Regisseur, Autor und Schauspieler in Berlin. Er ist Mitherausgeber der Filmzeitschrift "Revolver". Wackerbarth war mit seinen Kurzfilmen auf internationalen Filmfestivals vertreten und gewann mehrere Preise. "Unten Mitte Kinn" ist sein erster Langfilm, er wurde für das ZDF produziert und lief bereits im "kleinen Fernsehspiel", bevor er beim Filmfest München 2011 auch für das Kino entdeckt wurde. Ursula Werner war über 30 Jahre am Maxim Gorki Theater in Berlin engagiert und ist bekannt aus Andreas Dresens Film "Wolke 9" (2008). Ole Lagerpusch ist Mitglied am Ensemble des Deutschen Theaters Berlin und dort in zahlreichen Rollen zu sehen, genau wie Kathleen Morgeneyer, die 2009 von der Zeitschrift "Theaterheute" zur besten Nachwuchsschauspielerin gekürt wurde. Eine Auszeichnung, die auch Anne Müller 2008 erhielt, die derzeit am Maxim Gorki Theater engagiert ist. Fritz Schediwy (1943-2011) arbeitete unter anderem mit Peter Zadek, Claus Peymann, Rainer Werner Fassbinder und Werner Schroeter und starb im Mai nach einem Herzanfall, den er auf der Bühne erlitten hatte.
Unten Mitte Kinn
Deutschland 2011
Buch und Regie: Nicolas Wackerbarth
DarstellerInnen: Kathleen Morgeneyer, Anne Müller, Ole Lagerpusch, Ursula Werner, Fritz Schediwy u.a.
Produktion: Schramm Film Koerner&Weber, im Auftrag des ZDF
Verleih: Peripher Filmverleih
Lauflänge: 89 Minuten
Kinostart: 8. Dezember 2011 im fsk am Oranienplatz
Weitere Infos: "Unten Mitte Kinn" im "Revolver", und beim
ZDF
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ursula Werner in "Wolke 9", "Die Damen der Gesellschaft"(2003) und in der
Dreigroschenoper (2004).
Kathleen Morgeneyer erhält den Alfred-Kerr-DarstellerInnenpreis (2009).
Fritz Schediwy im Film "Nachmittag" von Angela Schanelec (2007).