Delphine Horvilleur - Ãœberlegungen zur Frage des Antisemitismus. Verlosung - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Gewinnspiele



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.05.2020


Delphine Horvilleur - Ãœberlegungen zur Frage des Antisemitismus. Verlosung
Nea Weissberg, Sharon Adler

Delphine Horvilleur ist neben Pauline Bebe, Floriane Chinsky und Danièla Touati eine von vier Rabbinerinnen in Frankreich. In ihrem Essay schildert und analysiert sie verschiedenste Aspekte des Judenhasses sowie beleuchtet Verknüpfungen von Antisemitismus, Faschismus und Misogynie. Dazu wendet sie sich den Schriften aus der Torah und dem Talmud zu. Durch ihre Untersuchung der rabbinischen Dispute nähert sie sich dem Ursprung … AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher




… der darin beschriebenen ablehnenden Haltungen gegenüber Juden, wie diese schon in heiligen Texten der rabbinischen Tradition und der jüdischen Legenden beschrieben werden, um daraus einen Gedankenansatz zum heutigen Judenhass abzuleiten.

Die Rabbinerin und Autorin Delphine Horvilleur: "Das rabbinische Denken ist ein posttraumatisches Denken, das in einer Zeit tiefer Trauer seinen Aufschwung genommen hat". Gedenken und Erinnern sind wichtige Elemente im Judentum und Horvilleur meint, dass "sich das jüdische Leben nur im Bewusstsein seiner Versehrtheit, seines eigentlichen Fundaments, entfalten kann. Erst durch einen Mangel, entsteht ein definierter Wille, alles Wollen, das Zukunft ermöglicht."

In den Mittelpunkt ihrer komplexen "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" stellt die Rabbinerin Delphine Horvilleur die Fragen nach dem inneren Akzeptieren jüdischer Identität, das beeinflusst ist von jahrhundertealten Demütigungen des jüdischen Volkes in den unterschiedlichen Exil-Ländern.

Das Selbstbild von "Diaspora-Juden" und Diaspora-Jüdinnen" ist kein unversehrtes. Ihnen fehlt besonders nach der Shoah der heimatliche Bezug zum Geburts-und Lebensort.
Das Selbstbild von israelischen Juden und Jüdinnen dagegen ist grundsätzlich das einer starken, verwurzelten Nation, das auf Prävention und Notwehr setzt. Gemeinsam ist allen aber, dass die Judenheit global nicht frei vom Blick der Anderen, der Gojim, ist. Eine authentische jüdische Identität zu erlangen, bedeutet einerseits, sich im Spiegelbild des Anderen zu betrachten, um wirklicher im Anderen zu werden und andererseits sein eigenes ICH autark zu entwickeln und authentisch zu erspüren.

Die Diaspora-Juden und Jüdinnen sind nicht erst seit dem Beginn der "Juden-Emanzipation" im Jahr 1871 vom wohlvollenden Schutz der jeweiligen Regierenden abhängig, Das israelische Volk verteidigt sich selbst, ist aber gleichzeitig auch in Allianzen mit der westlichen Welt verbündet. Israelis und Jüdinnen und Juden erfahren in und außerhalb Europas immer weniger Mitgefühl.

Delphine Horvilleur benennt Judenfeindschaft als obsessiv. Antizionismus, Anti-Israelisch-Sein und Antisemitismus kommen im Gewand des Schafspelzes daher, wie sie nachdrücklich beschreibt. "Die Israel-Frage wird bei manchen zur fixen Idee, und es wäre ebenso naiv wie unehrlich zu behaupten, dass die Bezeichnung Jude mit all ihren geschichtlichen Konnotationen nichts damit zu tun hätte."

Judenhasser, Judenhasserin, Israelhasser, Israelhasserin projizieren auf die Figur eines Juden oder einer Jüdin die Leerstellen, die ihr/ihm selbst fehlen. Daraus speist sich Neid und Missgunst. Dazu Delphine Horvilleur: "Wer die Juden hasst, hast vor allem seine eigene identitäre Schwachstelle".

In ihren Gedanken über den Ursprung der Judenfeindschaft zieht Delphine Horvilleur auch immer Beispiele aus der Geschichte, der Leidens- und Überlebensgeschichte des jüdischen Volkes, heran. Einen wiederkommenden Beweggrund des Judenhasses sieht Horvilleur in der überlieferten Erzählung über Timna, der Nebenfrau Elifas und der Mutter Amaleks. Elifa ist der Sohn Esaus. Amalek ist der Enkel Esaus, der Sohn von Timma und Elias. Im Babylonischen Talmud heißt es, Timmas von den drei hebräischen Urvätern Abraham, Isaak und Jacob abgewiesener Herzenswunsch, ins Judentum eingegliedert zu werden, schuf ein generationsübergreifendes weitergeleitetes Hassgefühl. "In der Genesis ist Timma also Amaleks Mutter, im Buch der Chronik seine Schwester. Für die Rabbinische Literatur besteht kein Zweifel daran, dass sie beides gleichzeitig ist." Elifas habe die eigene Tochter zur Nebenfrau gemacht und die Nachkommenschaft durch die inzestuöse Verbindung bis heute beschädigt.

Die Rolle der starken jüdischen Frau, ihren großen Einfluss auf die Geschicke und das Schicksal des jüdischen Volkes, beschreibt Rabbinerin Delphine Horvilleur anhand von rabbinischen, biblischen Quellen. Ihr gegenüber stellt sie die als schwach erlebte Rolle des jüdischen Mannes. Während jüdischen Frauen in der Darstellung im nicht-jüdischen Kontext eine geringe Aufmerksamkeit zukam, erfuhr das Bild des jüdischen Mannes in antisemitischen Physiognomie-Karikaturen 1920er und 1930er Jahre eine massenhafte Verbreitung.

Die Bilder von Jüdinnen_Juden und die von Israelis, werden heute, und auch das legt die Autorin plastisch dar, als immer gleiche Klischeebilder reproduziert, die sich damit weiter manifestieren.

Die Feministin Horvilleur - und das ist ihr hoch anzurechnen - rechnet hier auch ab mit den Linken, und mit antisemitischen Feministinnen. Sie schreibt: "Weshalb werden die Juden im Diskurs von Teilen der extremen Linken systematisch mit dem herrschenden Kollektiv identifiziert? (…)" Und weiter: "Warum haben derart viele feministische Gruppen die Befreiung Palästinas als ´das schlagende Hetz des Feminismus´ auf ihr Banner geschrieben? Als Linda Sarsour, die bekannte Vorsitzende des Women´s March 2017 erklärt, eine Frau könne nicht gleichzeitig Feministin und Zionistin sein, impliziert sie, dass der Kampf gegen die Entfremdung der Frauen zwingend ´antizionistisch´ sein müsse, und schließt damit zionistische jüdische Frauen von ihrem Anliegen aus."

Delphine Horvilleur lebt und arbeitet in Frankreich, in einem Land mit der europaweit größten Jüdischen Gemeinde, aber auch in einem Land, in dem viele muslimische Einwanderer, aus Algerien und aus dem gesamten Nahen Osten leben. Mit der tradierten politischen Einstellung Israel gegenüber eskaliert eine aufgeheizte Gegnerschaft, äußert sich eine gewalttätige Ablehnung Juden und Jüdinnen gegenüber, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit. Delphine Horvilleur macht deutlich, dass "einzelne Motive der obsessiven Israelkritik starke Anklänge an den traditionellen Diskurs der Antisemiten zeigen."

Doch nicht nur die Judenfeindschaft aus muslimischen Kreisen ist gefährlich. Auch die perfide Rhetorik der rechtsradikalen Marine Le Pen, die mit ihrer nationalistischen Partei Front National die bürgerliche Mitte erreicht hat, bereitet den Nährboden für antisemitische Taten. Die Rechtsradikalen schreien ihren Hass auf Jüdinnen-Juden öffentlich auf den Straßen von Paris mit altbekannten Parolen heraus: "Juden, Frankreich gehört euch nicht!".

In ganz Frankreich gibt es immer wieder antisemitische Übergriffe: auf Schulen, auf Synagogen, Geschäfte. Dass die Anschläge sich zunehmend aber auch gezielt gegen einzelne Menschen richten, dass eine reale Gefahr für französische Jüdinnen und Juden besteht, schockiert und macht sprachlos.
Zuletzt gezeigt hat das der grausame Mord an der 85 Jahre alten Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in ihrer eigenen Wohnung im März 2018, oder der Foltermord an Ilan Halimi, einem französischen Juden marokkanischer Herkunft im Jahr 2006.

Auf den wachsenden Antisemitismus hat das französische Parlament Ende 2019 reagiert. Mit einer Resolution gemäß der Definition für Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) hat Frankreich Antizionismus als Antisemitismus anerkannt, teilte das Außenministerium des Staates Israel am 3.12.2019 mit.

Die Definition für Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) im Wortlaut: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen."

Über 20.000 französische Juden sind seit 2014 nach Israel emigriert. Das Rückkehrgesetz des israelischen Staates besagt, dass jede Jüdin und jeder Jude die israelische Staatsangehörigkeit erhalten kann. Diese Tatsache verschafft ein emotional existentielles Sicherheitsgefühl. Für viele Nicht-Jüdinnen/Nicht-Juden völlig unbekannt ist der Terminus vom "gepackten Koffer", der in jedem jüdischen Haushalt zum festen Inventar gehört.

Obwohl Delphine Horvilleur sich in ihrem Essay dem Thema Antisemitismus in all seinen Ausprägungen von einer bislang wenig beachteten Perspektive annähert und auf philosophisch-theoretischer Basis neue Thesen diskutiert, gibt ihr Essay keine richtungsweisenden Antworten auf die drängenden globalen Fragen der Zeit zum Thema Antisemitismus. Kann es auch nicht geben. Dennoch wirkt besonders ihr Abschluss-Statement: "Man muss dem Juden nur einreden, dass er genau weiß, worin sein Jüdischsein besteht! Dann ist es ein für alle Mal vorbei mit ihm. Bis dahin, fürchte ich, muss der Antisemit sich mit ihm arrangieren" als verkürzt und wie thematisch abrupt abgeschnitten. Deutlich wird dadurch jedoch auch, dass die Analyse und Bekämpfung des Antisemitismus trotz seiner jahrtausendealten Geschichte auch heute noch am Anfang steht.

AVIVA-Tipp: Rabbinerin Delphine Horvilleur greift in ihrem Essay "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" elementare Fragen zur jüdischen Identität auf. Ein lesenswerter und hochspannend beschriebener Ansatz, der den Raum für tiefergehende Debatten und Austausch bietet.

Die Buchvorstellung "Delphine Horvilleur im Gespräch mit Mirjam Wenzel" (Jüdisches Museum Frankfurt), Lesung: Sarah Fischer, steht als Videostream auf Facebook und YouTube zur Verfügung: Delphine Horvilleur "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus"
Die vom Jüdischen Museum Frankfurt konzipierte Buchpremiere mit Delphine Horvilleur fand am 12. Mai 2020 um 19:30 Uhr als Videostream statt (in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln). Prof. Dr. Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums, sprach via Videokonferenz mit Delphine Horvilleur. Die Lesung aus der deutschen Übersetzung des Buchs von Nicola Denis übernahm Sarah Fischer. Prof. Mirjam Wenzel hat live kommentiert.

Zur Autorin: Delphine Horvilleur geboren am 8. November 1974 in Nancy, ist Rabbinerin und die Leitfigur der Liberalen Jüdischen Bewegung Frankreichs (MJLF). Sie ist Herausgeberin der Zeitschrift Tenou´a und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Weiblichkeit und Judentum. "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" ist ihr erstes Buch in deutscher Übersetzung.
Mehr zu Delphine Horvilleur unter:
twitter.com/rabbidelphineh, www.mjlf.org/en/our-rabbis sowie www.grasset.fr und copernic.paris/fr

Zur Übersetzerin: Nicola Denis, geboren 1972 in Celle erhielt für ihre Übersetzungen zahlreiche Preise und Stipendien, wie 2016 das Elmar-Tophoven-Stipendium. Sie übersetzte u. a. Werke von Bérengère Viennot, Olivia Rosenthal, Éric Vuillard und Olivier Guez sowie Alexandre Dumas und Honoré de Balzac. Mit der Übersetzung von "Die Tagesordnung" war sie für den 10. Internationalen Literaturpreis des HKW nominiert. Nicola Denis lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Westfrankreich, wo sie als freie Übersetzerin arbeitet. (Verlagsinformation)
Mehr Infos zur Ãœbersetzerin: nicoladenis.fr/de

Delphine Horvilleur
Ãœberlegungen zur Frage des Antisemitismus

Originaltitel: Réflexions sur la question antisémite
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Hanser Verlag, dt. Erstauflage 2020. Erschienen am 17. Februar 2020
Franz. Originalausgabe erschienen 2019 bei Éditions Grasset
141 Seiten. Gebunden
Preis: 18,00 Euro
ISBN 978-3-446-26596-7

Mehr zum Buch: www.hanser-literaturverlage.de


Literatur, weitere Neuerscheinungen im Jahr 2020 (kein Anspruch auf Vollständigkeit)

"Antisemitismus an Schulen in Deutschland" von der Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Science, Julia Bernstein. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Antisemitismus.
Mehr zum Buch: www.beltz.de

"Israelbezogener Antisemitismus" von Julia Bernstein
Mehr zum Buch: www.beltz.de

"Antisemitismus in der Schule: Handlungsmöglichkeiten der Schulsozialarbeit" von der Professorin für Sozialwissenschaften im Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam Gudrun Perko.
Mehr zum Buch: www.beltz.de

AVIVA-Literaturempfehlung aus dem Jahr 2019

"Schonzeit vorbei: Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus" von Bloggerin Juna Grossmann ("irgendwie jüdisch" irgendwiejuedisch.com)
Mehr zum Buch: www.droemer-knaur.de


AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher. Bitte senden Sie uns dazu bis zum 16.07.2020 per Email an: info@aviva-berlin.de den Titel des aktuellen AVIVA-Interview- + Fotoprojekts gegen Antisemitismus.


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Gemeinsam gegen Antisemitismus: ZWST, Beratungsstelle OFEK und Bundesverband RIAS vereinbaren neue Kooperation
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST), die Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. und der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e.V. (2020)

Berliner Büro des American Jewish Committee (AJC) stellt 12-Punkte Aktionsplan zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland auf
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Jahresbericht von RIAS Berlin: Antisemitismus 2018 gewalttätiger und direkter
Häufiger als zuvor nahm Antisemitismus im vergangenen Jahr in Berlin verrohte Formen an. Dies geht aus dem "Bericht antisemitischer Vorfälle 2018" hervor, den die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) am 17.04.2019 vorstellte. In ihrer - auf AVIVA-Berlin veröffentlichten - Pressemitteilung dokumentiert RIAS Berlin Zahlen, Fakten und O-Töne. Außerdem in diesem Beitrag: Die AVIVA-Linkliste informiert zu Initiativen und Organisationen, die sich gegen Antisemitismus engagieren. (2019)

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Olivia Rosenthal - Ãœberlebensmechanismen in feindlicher Umgebung
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Beitrag vom 16.05.2020

AVIVA-Redaktion