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Beitrag vom 10.01.2020
Maike Weißpflug – Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken. Hannah Arendt – Freundschaft in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing. Herausgegeben und eingeleitet von Matthias Bormuth. Verlosung
Sophie Zue
Zwei Neuerscheinungen nehmen Hannah Arendt (1906-1975) als politische Denkerin und Intellektuelle in den Blick und beleuchten dabei weniger einzelne Konzepte und Begriffe der Philosophin als ihren spezifischen Denkstil und ihre Haltung gegenüber der Welt. Beide porträtieren Arendt dabei als … AVIVA-Berlin verlost je 2 Bücher
… Intellektuelle, die sich leidenschaftlich für Pluralismus und freien Meinungsaustausch einsetzt und gerade im kontinuierlichen offenen Gespräch über die gemeinsam geteilte Welt die Grundlage für Zusammenhalt in demokratischen Gesellschaften sieht.
Die Kunst, politisch zu denken
Die Politikwissenschaftlerin Maike Weißpflug widmet sich in "Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken" (Matthes & Seitz Berlin, 2019) dem Versuch der politischen Theoretikerin, im Denken eine Haltung gegenüber der Welt einzunehmen. Diese Denkhaltung gelte es, "von heute aus und für heute" fruchtbar zu machen, "um über die gegenwärtige Politik nachzudenken".
Weißpflug interessiert vor allem Arendts theoretischer Ansatz, der entgegen der philosophischen Tradition der Pluralität und Vielfalt von Perspektiven im politischen Raum Rechnung trägt und das Denken an konkrete, sinnliche Erfahrungen, ja auch politische Erfahrungen rückbindet. Durch diese Bezugnahme auf konkrete Erfahrungen und die eigene Geschichte eröffnet sich dem Subjekt in Arendts politischer Theorie eine einzigartige Perspektive auf die Welt, die es in den öffentlichen Raum einzubringen gilt, um so die Welt zuallererst zu erschließen.
Bei diesem Erschließen von Welt spielt die Literatur für die politische Denkerin – wie Weißpflug zeigt - eine ganz zentrale Rolle. Mit der Bedeutung der Literatur in und für Arendts Denken haben sich in den vergangenen Jahren mehrere literaturwissenschaftliche und philosophische Studien auseinandergesetzt. Weißpflug ergänzt diese Studien mit ihrem Buch um eine sehr profunde politikwissenschaftliche Perspektive, die sich nicht nur auf Arendts politisches Werk stützt, sondern auch zahlreiche kleinere und weniger bekannte Schriften Arendts miteinbezieht und so ein umfassendes und facettenreiches Bild entstehen lässt. Sie macht zunächst deutlich, dass Literatur bei Arendt nicht einfach illustrierenden Charakter hat, sondern eine entscheidende Quelle politischer Erkenntnis ist.
Arendt selbst entwickelte zentrale Begriffe ihrer politischen Theorie – wie ihre Konzepte des Politischen oder der totalen Herrschaft - mit Hilfe der Literatur. Darüber hinaus griff Arendt nicht nur bei der inhaltlichen Bestimmung einzelner Begriffe auf die Literatur zurück. Auch formal erschien Arendt die Literatur und das Erzählen oft besser als die Philosophie geeignet, um sich der Wirklichkeit in ihrer Komplexität und in ihren vielschichtigen Beziehungsgeflechten zu nähern. Besonders die Möglichkeit der Erzählung, unterschiedlichste Perspektiven und somit Pluralität widerzuspiegeln, machte die narrativ-erschließende Methode für die politische Theoretikerin so reizvoll. Zudem ermöglichte die Literatur es, sich Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit anzueignen, sie so auch für andere erfahrbar zu machen und damit zum Dialog und politischen Handeln anzuregen. Und gerade auf diesen Austausch verschiedener Menschen, die sich auf Augenhöhe mit ihrer eigenen Perspektive begegnen und über die gemeinsam geteilte Welt verständigen, kommt es Arendt an.
Dabei ging es Arendt – wie Weißpflug herausarbeitet - keineswegs um Expert*innengespräche. Jede*r sollte am öffentlichen Dialog teilhaben können und ihre/seine Perspektive auf einen Sachverhalt einbringen können. Die Philosophin war sich bewusst, dass jede Perspektive notwendigerweise beschränkt ist und ein gefälltes Urteil auch falsch sein kann. Doch viel wichtiger als die Richtigkeit eines Urteils war Arendt das kontinuierliche Gespräch und die Haltung der Gesprächspartner*innen zueinander. Solange diese einander offen und diskussionsbereit begegnen und bereit sind, Widerspruch anzunehmen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, so lange bleibt ein gesellschaftliches Gespräch im Gang, das die Basis für Demokratie bildet. Dabei gab es für Arendt kein Redeverbot.
Wie Weißpflug anhand von Arendts sehr umstrittener Auseinandersetzung mit Joseph Conrads Heart of Darkness und seiner Darstellung des Rassismus darlegt, beinhaltet Arendts Haltung des Verstehens eine scharfe Zurückweisung und Verurteilung des liberalen Kampfes gegen rassistische und totalitäre Ideologien. Auch wenn dieser Kampf "berechtigt" sei und von "Wohlmeinenden" geführt werde, lehnt Arendt diese Haltung ab, da sie die Bürger*innen bevormunden und erziehen wolle und damit in ihren Augen selbst ein totalitäres Element enthalte. Es sind nicht allein diese Passagen, in denen Weißpflugs Analyse sehr aktuell erscheint. Auch ihr abschließender Versuch, Arendt als Vordenkerin des Anthropozän zu lesen und ihr politisches Denken für unseren Umgang mit heutigen Herausforderungen wie dem Klimawandel fruchtbar zu machen, ist sehr anregend zu lesen.
Freundschaft in finsteren Zeiten
In der Rede, die Arendt 1959 anlässlich des Lessing-Preises durch den Hamburger Senat hielt, spielt das fortwährende Gespräch zwischen Menschen um die gemeinsam geteilte Welt ebenfalls eine ganz zentrale Rolle. Diese Rede, die auf Deutsch erstmals 1989 in dem Band "Menschen in finsteren Zeiten" erschien, ist nun neu in der Reihe "Fröhliche Wissenschaften", ebenfalls bei Matthes und Seitz Berlin, aufgelegt worden. Der Herausgeber Matthias Bormuth, Professor für Ideengeschichte an der Universität Oldenburg, ordnet den Text zunächst in einem ausführlichen Vorwort zeit- und ideengeschichtlich ein.
Als privilegierten Ort des politischen Gesprächs nennt Arendt in ihrer Rede die Freundschaft. Sie bezieht sich dabei auf das aristotelische Konzept der philia und kritisiert scharf die moderne Sichtweise von Freundschaft als einem rein privaten, ja intimen Phänomen, als Rückzugsort, an dem Menschen einander "unbehelligt von der Welt und ihren Ansprüchen" ihr Inneres öffnen. Für Arendt hat die Freundschaft weniger eine private als vielmehr eine eminent politische Bedeutung. Denn das Wesen der Freundschaft liegt für Arendt im Gespräch. Und es war gerade das kontinuierliche Gespräch, das die athenischen Bürger*innen zu einer Polis vereinigte, weswegen es für Arendt nur allzu nachvollziehbar ist, dass für Aristoteles Freundschaft die Voraussetzung für ein gesundes Gemeinwesen darstellte. Gerade im Gespräch unter Freund*innen, so erinnert Bormuth in seinem Vorwort, besteht eine besondere Bereitschaft, die "individuelle Unabhängigkeit" anzuerkennen, "anders gelagerte Meinungen zu dulden", wodurch "ein offenes, bewegliches wie duldsames Denken möglich" wird.
Über Hannah Arendt ist bekannt, dass Freundschaften in ihrem Leben eine ganz zentrale Rolle spielten. Insofern wirkt es sehr passend, dass der kleine rote Band mit kurzen Erinnerungen an Arendt von vier ihrer New Yorker Freund*innen - Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn - schließt, die sie als Privatmensch, Freundin, in ihrer Ehe mit Heinrich Blücher sowie als Dozentin und Kollegin lebendig werden lassen.
AVIVA-Tipp: Während Matthias Bormuth mit "Freundschaft in finsteren Zeiten" auch theoretisch wenig geschulten Leser*innen einen guten ersten Einblick in Arendts Leben und Werk gewährt, fordert Maike Weißpflug ihre Leser*innen mit ihrem sehr lesenswerten Buch mehr. Aufgrund ihrer breiten und genauen Werkkenntnis lässt sie tief in das Denken der Theoretikerin eintauchen. Weißpflug macht Arendt stark und denkt, auch wenn sie gegen Arendt denkt - sofern es deren widersprüchlich verwendete Begriffe erlauben – mit der Philosophin. Manchmal wäre da noch ein etwas kritischerer Zugriff wünschenswert gewesen. Zugleich gelingt es ihr hervorragend, die Brücke ins Heute zu schlagen und mit Hannah Arendt Impulse für unseren Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zu geben.
Kurzbiografie Hannah Arendt
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. Als Jüdin von den Nazis verfolgt, verließ sie Deutschland 1933 über Tschechien, Italien und die Schweiz zunächst nach Paris, 1941 nach New York. Von den Nazis ausgebürgert, war sie 1937 staatenlos, bis sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerinnenschaft erhielt. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Ab 1963 war sie Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York, wo sie am 4. Dezember 1975 starb. Ihre wichtigsten Werke sind: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", "Menschen in finsteren Zeiten", "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.", "Vita Activa" und "Rahel Varnhagen".
(Quelle: Verlagsinformationen)
Zur Autorin: Maike Weißpflug, ist Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Politische Theorie. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RWTH Aachen und arbeitet heute im Forschungsbereich »Museum und Gesellschaft« des Museums für Naturkunde Berlin. Sie gehört zu den Mitinitiatorinnen des Blogs theorieblog.de.
(Quelle: Verlagsinformationen)
Zum Herausgeber: Matthias Bormuth, 1963 geboren, ist Medizinethiker und Kulturwissenschaftler, hat seit 2012 die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg inne und leitet dort das Karl-Jaspers-Haus. Er edierte Werke von Hannah Arendt, Karl Jaspers sowie Max Weber und veröffentlichte zahlreiche eigene Monografien, zuletzt "Mit einer Handvoll Sand. Ingeborg Bachmann als Philosophin" (2010).
(Quelle: Verlagsinformationen)
Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken
Maike Weißpflug
Matthes & Seitz Berlin, 2019
Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95757-721-4
Mehr zum Buch unter: www.matthes-seitz-berlin.de
Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten. Die Lessing-Rede mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, Alfred Kazin und Jerome Kohn
Herausgegeben und eingeleitet von Matthias Bormuth
Matthes & Seitz Berlin, Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 131, erschienen 2018
Softcover, 142 Seiten
ISBN: 978-3-95757-606-4
Mehr zum Buch unter: www.matthes-seitz-berlin.de
Mehr zu Hannah Arendt:
Hannah Arendts Beiträge im Archiv des "New Yorker" unter:
www.newyorker.com
Interviews aus den 1960er Jahren:
www.youtube.com
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Simone Frieling - Rebellinnen. Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Simone Weil
Drei Denkerinnen porträtiert die Biografin, Malerin und Autorin Simone Frieling in ihrem neuen Buch. Viele Gemeinsamkeiten einten diese drei Persönlichkeiten, die sich nie begegneten, gleichwohl aber voneinander wussten und aufeinander Bezug nahmen. (2019)
Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff
Die beiden langjährigen Arendt-Forscherinnen Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz haben einen weiteren Band mit Briefen von und an Hannah Arendt herausgegeben. Diesmal geht es um fünf Freundinnen, denen Arendt auf unterschiedliche Art nahe stand: Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff (2018)
Katrin Meyer - Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt
Gewalt ist das Gegenteil von Macht – mit dieser Festlegung hat die jüdische Philosophin Hannah Arendt die sozialphilosophische und politische Debatte entscheidend verändert. Die Autorin, Lehrbeauftragte für Philosophie und Gender Studies an verschiedenen Schweizer Universitäten, analysiert Arendts Machttheorie und stellt deren Bedeutung in der Gegenwart vor. (2017)
Hannah Arendt - Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte
Dass Hannah Arendt eine große Literaturliebhaberin war, zeigt sich schon an ihren vielen Freundschaften zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sei es die innige und bis an ihr Lebensende währende Freundschaft mit Mary McCarthy, die herzlichen Begegnungen mit Uwe Johnson, der sie incognito in seine "Jahrestage" einschmuggelte, oder mit dem österreichischen Autor Hermann Broch. (2016)
Sonderheft des Philosophie Magazins im Juni 2016. Hannah Arendt. Die Freiheit des Denkens
146 Seiten widmen sich der jüdischen Journalistin und Professorin der New School for Social Research, ihrer Biographie sowie ihrem theoretischen Werk. Dabei stehen Flucht, Judentum und Menschenrechte im Fokus. (2016)
Hannah Arendt - Wahrheit gibt es nur zu zweien. Briefe an die Freunde. Hrsg. von Ingeborg Nordmann
Freundschaften waren Hannah Arendt Zeit ihres Lebens wichtig. Sie ermöglichten das Heimisch-Sein in der Emigration und das Willkommen-Sein in Deutschland. Dieser Briefband zeugt davon. 1945 beschreibt Hannah Arendt in einem Brief sehr eindringlich, wie wichtig Freundschaften in der Emigration sind. (2014)
Hannah Arendt. Ab 10.10.2013 auf DVD und Blu-Ray
Unter der Regie von Margarethe von Trotta und mit exzellenten DarstellerInnen wie Barbara Sukowa und Axel Milberg in den Hauptrollen entstand das filmische Portrait der wegen ihrer These der "Banalität des Bösen" umstrittenen Denkerin Arendt. (2013)
Barbara Holland-Cunz - Gefährdete Freiheit. Über Hannah Arendt und Simone de Beauvoir
Die beiden Philosophinnen in einem Atemzug zu nennen, irritiert zunächst, weiß mensch doch von ihrem eher distanzierten Verhältnis zueinander. Dennoch begibt sich die Autorin auf die Suche nach verbindenden Elementen dieser (Nicht-)Beziehung und findet mehr als nur zwei Abbildungen der beiden Denkerinnen, die über Äußerlichkeiten eine Ähnlichkeit konstruieren wollen, nämlich deren Weltbezug. (2012)
Hannah Arendt und Gershom Scholem - Der Briefwechsel
Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können, die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt und der Kabbala-Gelehrte Gershom Scholem. Und doch verband sie eine Freundschaft über mehr als zwanzig Jahre. (2010)
Hannah Arendt - Das private Adressbuch 1951-1975
Den Reiz privater Adressbücher hat Christine Fischer-Defoy bereits mit Heinrich Manns, Marlene Dietrichs, Paul Hindemiths und Walther Benjamins Verzeichnissen bewiesen. Nun folgt Hannah Arendts. (2007)
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