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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 30.01.2018


FREIHEIT. Ein Film von Jan Speckenbach mit Johanna Wokalek. Kinostart: 8. Februar 2018
AVIVA-Redaktion

Nora geht zur Tür hinaus, verlässt ihren Mann Philip und die beiden Kinder ohne ein Wort der Erklärung. Eine unbändige Kraft treibt sie an: Sie will wieder spüren, dass sie lebt. Nora hat das Gefühl, durch ihren Alltag der Welt abhandengekommen zu sein. Während sie einen neuen Weg sucht, bleibt Philip zurück und muss Kinder, Arbeit und Alltag weiter am Laufen halten, in absoluter Ungewissheit, wann und ob seine Frau überhaupt noch einmal zurückkehren wird. Noras Suche nach Freiheit ist für ihn eine Herausforderung. AVIVA verlost 3x2 Freikarten




Was passiert mit Ibsens "Nora" nachdem sie ihr "Puppenheim" verlassen hat? Das ist eine der Frage, denen Jan Speckenbach mit seinem Film nachgegangen ist.
Johanna Wokalek ("Die Päpstin", "Der Baader Meinhof Komplex", "Barfuss") und Hans-Jochen Wagner (Kommissarin Heller) spielen die Hauptrollen in diesem hintergründigen Drama. "Freiheit" ist der zweite Spielfilm des Berliner Regisseurs nach seinem vielbeachteten Debüt "Die Vermissten". Ein analytischer Spielfilm über unsere Vorstellungen von Beziehung, Familie und Leben.

Die Bilder

Nora (Anfang 40) bewegt sich augenscheinlich in fremder Umgebung:
Sie lässt sich auf einen Flirt ein, entzieht sich wieder in eine andere Stadt, überschreitet die Sprachbarriere vom Deutschen zum Slowakischen. Wie fremd muss die Fremde sein, um die eigene Fremdheit zu überwinden?
Philip (Mitte 40) geht durch seinen Alltag: Er kümmert sich um seine Kinder, übt seinen Beruf aus, hat eine Affäre mit Monika. Doch sein Leben ist nur eine Choreographie von Vereinbarungen, die seit dem Verschwinden seiner Frau Nora ihren Sinn eingebüßt haben.
Ein Abend in der Familie. Nora und Philip essen mit ihren zwei Kindern. Ein befreundetes Paar kommt zu Besuch. Die Kinder gehen ins Bett. Philip sieht fern. Nora will noch vor die Tür. Sie wird nicht zurückkehren.

In diesen drei Schritten erzählt der Film seine Geschichte von einer umgesetzten Sehnsucht nach FREIHEIT und deckt dabei einige Konstruktionsfehler unserer Gesellschaft auf.

Teil eins. Noras Schritte in ein mögliches neues Leben. Noch wissen wir nicht, woher sie kommt, welche Entscheidung sie gefällt hat oder dabei ist zu fällen. Wir sehen lediglich eine Frau, die ihre Vergangenheit hinter immer neuen kleinen Lügen kaschiert und sich ihren Weg ins Unbekannte bahnt, dabei mit Neugierde auf die Menschen zugeht, denen sie begegnet. Nach kurzem Aufenthalt in Wien fährt Nora per Autostop weiter nach Bratislava. Dort macht sie Bekanntschaft mit der jungen Slowakin Etela und ihrem Mann Tamás, der als Koch in einer Kneipe arbeitet und Nora einen Job in einem Hotel vermittelt. Nora lernt ihre zwei kleinen Söhne kennen und begleitet Etela zu ihrer Arbeit als Sexperformerin. Beim Blick in den Spiegel dieser Familie wird Nora bewusst, dass sie immer noch durch ihre Erinnerungen mit ihrer Familie verbunden ist.

Teil zwei. In einer Fernsehsendung à la "Aktenzeichen XY ungelöst" ruft Philip die ZuschauerInnen zur Mithilfe bei der Suche nach seiner seit zwei Jahren verschwundenen Frau Nora auf. Im Gespräch mit einem Moderator bejaht Philip die Frage, ob er glaube, dass Nora noch lebt. Er verlässt das Studio in Begleitung von Monika (Mitte 30). Es folgt sein Leben als Anwalt, als welcher er sich mit einer rassistischen Straftat befassen muss, sein Alltag als alleinerziehender Vater und nicht zuletzt seine Liebesaffäre mit Monika, die er seinen Kindern Lena (12) und Jonas (8) verheimlicht. Noras unerklärtes Verschwinden schwebt über seinem Leben wie ein Damoklesschwert. (Erst nach acht Jahren Wartezeit könnte Philip seine Frau für tot erklären und Monika heiraten.) Als Lena ihren Vater mit Monika beim Sex überrascht, zerbricht das dünne Gleichgewicht. Philip muss begreifen, dass die Vergangenheit ihm unweigerlich durch die Finger rinnt. Käme Nora zurück, wäre nichts wie vorher.

Teil drei schließlich springt zurück an den letzten gemeinsamen Abend vor Noras Weggehen. Wie Philip ist Nora als Anwältin tätig und wegen eines Falles unter Druck, an dem sie mit ihrer Kollegin Monika arbeitet. Als Monika bei der Familie ein paar Unterlagen vorbeibringt, wird sie von ihrem Freund Damouré (Mitte 30) begleitet, einem afrikanischen Tennislehrer. Die Begegnung verläuft nicht ganz harmonisch, besonders Philip findet nicht den richtigen Ton mit dem Afrikaner. Wieder unter sich bringt Nora die Kinder ins Bett und versucht zu arbeiten. Schließlich will sie noch einmal an die Luft. Philip erkundigt sich, wo sie noch hin will? – Irgendwohin, antwortet Nora.

Kulturelle Relevanz:
Nora geht.


Im Wettbewerb von Locarno und bei den Vorführungen bei den Hofer Filmtagen konnte frau/man erleben, dass FREIHEIT faszinierendes und polarisierendes Kino ist, das von einer mitreißenden Johanna Wokalek und den fantastischen Kinobildern von Tilo Hauke getragen wird.

Nach keinem Film in Hof gab es eine so lange und intensive Diskussion.
Jede/r kann das Gefühl der Hauptfigur verstehen, vom Alltag und dem Funktionieren-müssen zum Verschwinden gebracht zu werden. Und jede/r kennt den Wunschtraum einfach zu gehen. Aber auch jede/r kennt den Konflikt zwischen Freiheitsdrang und Verantwortungsgefühl. Dass Nora tatsächlich geht, und der Film für uns, die den Mut oder die Verzweiflung nicht aufbringen, das durchspielt, was das für Nora und aber auch für die Zurückgelassenen bedeutet, stellt einen großen Neuigkeitswert dar.
An unzähligen Stellen unseres sogenannten normalen Lebens kann frau/man mit Hilfe dieses Films den Hebel ansetzen. Die analytische Qualität, mit der Jan Speckenbach in seinem zweiten Film vorgeht, zeugt für großes deutsches AutorInnen-Kino.

Auch die kulturgeschichtliche Ebene des Films unterstreicht das bemerkenswert.
Diese beginnt bei der Lesbarkeit der Hauptfigur als Gedankenspiel über eine heutige Fortsetzung von Ibsens Drama "Nora – Ein Puppenheim". Die Idee, aus dem 1879 erschienenen und 1880 zum ersten Mal auch in Deutschland aufgeführten Drama von Henrik Ibsen, dass eine Frau ihre Familie verlässt, provoziert fast 140 Jahre nach Entstehung immer noch. Und markiert auch heute noch einen Tabubruch.
Im Bild "Turmbau zu Babel" (Wiener Version) von Pieter Bruegel dem Älteren, von 1563 kündigt sich das Scheitern eines großen menschlichen Entwurfs bereits unübersehbar an. Auf dieses Bild stößt Nora in Wien und es wird am Ende zum perspektivischen Fluchtpunkt ihrer Reise.
An diesem viel diskutierten Zwischenstopp des Films, schwimmt Nora mit gepacktem Bündel als ganz weiß gewordene Projektionsfläche, oder als erinnerungsloses weißes Blatt über den Fluss.

Jan Speckenbachs Film ist kein feelgood movie, aber ein einmalig konsequentes Filmkunstwerk, eine Spiegelung der Gesellschaft, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Wie kann es sein, dass frau/man sich als vermeintlich erfolgreicher Mensch verloren geht? Es ist kein Geheimnis, dass klassische Familien-Modelle angesichts unserer heutigen Arbeitswelt nicht mehr funktionieren. Macht die Gesellschaft es uns zu schwer zu gehen, oder macht sie es uns zu schwer zu bleiben?

FREIHEIT
Deutschland, Slowakei 2017
World Premiere: 70. Festival del film Locarno
Section: Concorso Internazionale
Deutsche Premiere: 51. Hofer Filmtage
Kinostart: 8. Februar 2018
100 Minuten
Sprachen: Deutsch, Englisch, Slovakisch mit deutschen Untertiteln
Verleih: FilmKinoText
Besetzung
Nora: Johanna Wokalek
Philip: Hans-Jochen Wagner
Monika: Inga Birkenfeld
Etela: Andrea Szabová
Tamás: Ondrej Koval´
Lena (Noras Tochter): Rubina Labusch
Jonas (Noras Sohn): Georg Arms
Regie: Jan Speckenbach
Drehbuch: Jan Speckenbach, Andreas Deinert
Kamera: Tilo Hauke
Schnitt: Jan Speckenbach
Produktionsdesign: Juliane Friedrich
Ton: Marian Mentrup
ProduzentInnen: Sol Bondy, Jamila Wenske
KoproduzentInnen: Peter Badac, Jelena Goldbach
Produktion: One Two Films
Koproduktion: BFILM, ZAK Film Productions
Produktionsunterstützung: Medienboard Berlin-Brandenburg, Kuratorium junger deutscher Film, FFA, Slovak Audiovisual Fund, ZDF – Das kleine Fernsehspiel

Mehr zum Film unter:
www.facebook.com/freiheitfilm und www.filmkinotext.de/freiheit


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Quelle: FilmKinoText


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Beitrag vom 30.01.2018

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