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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.11.2017


Edna O´Brien - Die kleinen roten Stühle. Verlosung
Bärbel Gerdes

Die große irische Schriftstellerin Edna O´Brien ("The Country Girls", "The Lonely Girl", "Girls in Their Married Bliss", "Casualties of Peace") legt mit 86 Jahren ein Meisterwerk vor - stilistisch, kompositorisch und inhaltlich. Vordergründig versetzt sie eine Kleinstadt in Aufruhr durch das Auftauchen eines Heilers. Doch die Geschichte dahinter ist grausam. AVIVA verlost 2 Bücher




Schon ihr erster Roman wurde verboten, ja, sogar verbrannt. The Country Girls(dt.: Die Fünfzehnjährigen, 1961), erschienen 1960, war dem katholischen Irland durch die Darstellung des sexuellen Lebens zu anstößig und unmoralisch. Auch die folgenden Romane The Lonely Girl (1962) und Girls in Their Married Bliss (1964), die zusammen schließlich die Country-Girls-Trilogie bildeten, erlitten dieselbe Reaktion. O´Brien porträtiert darin das Leben zweier irischer Mädchen, die in einer streng katholischen Familie und Umgebung aufwachsen. Die beiden rebellieren gegen die Konventionen und flüchten nach Dublin, schließlich nach London.

O´Brien selbst entstammt einer streng katholischen Familie. 1930 im County Clare geboren, studierte sie Pharmazie und begann schon früh Sketche und kleine Geschichten zu schreiben.
Schon in ihrem ersten Roman befasste sie sich mit dem Leben von Frauen. Stets kritisierte sie die einengende Erziehung von Mädchen und die unterdrückerischen Bedingungen für Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft.

"Ich stand mal in, mal außerhalb der Gunst der Feministinnen", sagt O´Brien in einem Gespräch mit dem Herausgeber Lee Brackstone, "denn ich schreibe nicht nach einer Formel und halte mich nicht streng an Political Correctness. Ich konnte das nicht. Aber dies möchte ich sagen: Ich weiß, dass Frauen zu allen Zeiten entsetzlich behandelt wurden. Ich wuchs in einer patriarchalen Gesellschaft auf und meine ersten Bücher, trotz all ihrer Komik, sind teilweise Protest."

Ausgangspunkt ihrer Bücher war manches Mal die eigene Kindheit: "Unglückliche Häuser sind eine sehr gute Brutstätte für Geschichten", sagte sie in einem Interview.

Auch in ihrem aktuellen Roman Die kleinen roten Stühle geht es um das Schicksal einer Frau. Edna O´Brien schleicht sich an diese Geschichte mit einem grandiosen Trick heran. Auf dieselbe Art wie der seltsame Heiler das ganze Dorf für sich einnimmt, verführt die Autorin die Leserin zu der Annahme, es handle sich um eine humorvolle, leicht skurrile Dorfgeschichte, um dann, vollkommen unvermutet, doch umso grausamer, darzustellen, wer hinter Dr. Vladimir Dragan, kurz Vuk (Wolf), steckt.

Es ist die fiktionalisierte Geschichte des serbisch-kroatischen Massenmörders Radovan Karadžić, der in ihrem Roman als Dr. Vlad, Dr. Dragan oder Vuk in Irland untertaucht. O´Brien hat sich jahrelang mit Karadžić beschäftigt, war sogar zur Recherche beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag und besuchte dort auch den Prozess gegen ihn. Seine bis zum Schluss anhaltenden Unschuldsäußerungen und seine fehlende Einsicht, geschweige denn Reue, schockierten sie.

In einem Interview mit dem britischen Telegraph äußert sich Edna O´Brien:
"Macbeth wusste, was er getan hatte, deshalb halluzinierte er … Das machte Shakespeares Größe aus: er brachte in die Seele des verrückten Mörders das Element des Bewusstseins, der Angst, der Geißelung. Der Charakter von Vlad ist die beängstigende Kraft von Einem, der Tausenden von Menschen unzählbares Leid angetan hat und dennoch jeden Morgen aufsteht und sein Frühstück isst."

Zum Gedenken an die 11.541 Toten während der Belagerung Sarajewos wurden 2012 eben diese Anzahl roter Stühle entlang der Hauptstraße aufgestellt. 643 kleinere Stühle repräsentierten die Kinder, die durch Heckenschützen oder Artilleriefeuer ums Leben gekommen waren.

Vlad versteht es, alle im Dorf für sich einzunehmen, insbesondere die Frauen. Die verheiratete Fidelma verliebt sich in ihn. Sie möchte unbedingt ein Kind haben. Tatsächlich wird Fidelma schwanger. Der Doktor, der sich plötzlich als Kriegsverbrecher entpuppt, wird verhaftet – doch weitere dunkle Gestalten sind ihm und dadurch auch Fidelma auf den Fersen. Der Horror des Entdeckens der Identität des vermeintlichen Heilers wird für Fidelma zusätzlich zu einem ganz persönlichen Horror.

Fidelma wird zum Opfer – doch durch die katholische Gesellschaft auch zur Täterin abgestempelt, die ihren Mann hintergangen und betrogen hat – mit einem Massenmörder. O´Brien beschreibt ihr Schicksal in einer schonungslosen, gewaltreichen Brutalität.

Frau merkt diesem Buch die jahrzehntelange höchste Professionalität der Autorin an. O´Brien versteht es meisterinnenhaft, den unterschiedlichen Umwelten – dem Pub des Dorfes, der Praxis des Heilers, der Ehe Fidelmas, der Brutalität der Häscher – eine so eigene Stimme zu verleihen, dass die Leserin stets mit all ihren Sinnen und Gefühlen dabei ist. Das reiche stilistische Repertoire wird brillant eingesetzt. Um die beiden Ebenen – Dorfgeschichte und Massenmord in Sarajewo – zusammenzuführen, braucht O´Brien lediglich einen Brief, der Dr. Vla aus Sarajewo erreicht. In unglaublich verdichteter, hochkonzentrierter Sprache beschreibt er die Gräuel, aber auch die Lügen des Oberbefehlshabers, der der Außenwelt weismachen wollte, die Leichen auf den Straßen und Plätzen Sarajewos seien Puppen, die der Feind dort heimlich platziert habe.

Kathrin Razums und Nikolaus Stingls deutsche Übersetzung geben O´Briens Sprachreichtum und die Vielfältigkeit der Stimmen beeindruckend wider.

AVIVA-Tipp: Von Alterswerk kann keine Rede sein – es sei denn, dies bezöge sich auf das gereifte Können der Autorin. Edna O´Brien hat einen grandiosen, höchst spannenden und schockierenden Roman geschrieben.

Zur Autorin: Edna O´Brien 1930 im County Clare, Irland geboren, wuchs in einer streng katholischen Familie auf. Nach dem Besuch einer katholischen Klosterschule, studierte sie Pharmazie. 1952 heiratete sie und zog 1959 mit ihrem Mann nach London, wo sie hauptberuflich zu schreiben begann. Mitte der 60ger Jahre wurde die Ehe geschieden. Aufsehen erregten ihre ersten Romane der "Country Girls Trilogie". Es folgten zahlreiche weitere Romane, darunter "Casualties of Peace" (1966, dt.: Plötzlich im schönsten Frieden, 1974), "Night" (1972, dt.: In langen Nächten, 1998) und "Down by the River" (1996, dt.: Am Fluss, 1996). 2012 erschien ihre Autobiographie "County Girl", die mit dem Irish Book Award ausgezeichnet wurde.. Daneben schrieb sie Gedichte und Dramen, darunter eines über Virginia Woolf, "Virginia a play" (1980). O´Brien wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter den European Prize for Literature (1995 für "House of Splendid Isolation", dt.: Das einsame Haus, 1996) sowie dem Irish Pen Award (2000) und der Ulysses Medal (2006).

Zur Übersetzerin: Kathrin Razum, 1964 in Frankfurt am Main geboren, studierte in Heidelberg und in Baton Rouge, USA, Anglistik und Geschichte. Seit 1992 arbeitet sie als Literaturübersetzerin und freie Lektorin. Sie übersetzte u.a. V.S. Naipaul, Susan Sontag, T.C. Boyle und Hilary Mantle. Sie lebt in Heidelberg.

Zum Übersetzer: Nikolaus Stingl, 1952 in Baden-Baden geboren. Studium der Anglistik, Germanistik und Musikwissenschaften in Heidelberg. Seit 1980 arbeitet er als freier Literaturübersetzer. Er übersetzte u.a. Cormac McCarthy, William Faulkner, Paul Auster und Thomas Pynchon und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter 1995 den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis und 2007 den Paul-Celan-Preis.

Edna O´Brien
Die kleinen roten Stühle

Originaltitel: The Little Red Chairs (2015)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl
Steidl Verlag, erschienen im September 2017
Hardcover, Leineneinband, 336 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-95829-369-4
Mehr zum Buch sowie ein Gespräch mit Edna O´Brien "on the Bosnian war and loneliness" unter: www.steidl.de


AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher. Bitte vervollständigen Sie den Satz "Never lose your …", von Edna O´Brien aus dem Interview "on the Bosnian war and loneliness" und senden Sie uns Ihre Antwort mit Angabe Ihrer Postadresse bis zum 10.01.2018 per Email an folgende Adresse: info@aviva-berlin.de


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Beitrag vom 14.11.2017

Bärbel Gerdes