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Beitrag vom 06.09.2016
Laura Markert, Yvonne Moser und Lilli Scheuerlein - Fluchtatlas. Verlosung
Hai-Hsin Lu
Ein Atlas ist ein Tor zur Welt. Für manche Menschen zeichnen sich die Wege über die Kontinente jedoch zwischen Verfolgung, Angst und Tod. Das mit dem German Design Award und dem Art Directors Club Germany Gold ausgezeichnete Buch greift …AVIVA verlost 1 Buch
... eines der relevantesten Themen unserer Zeit auf.
Für Menschen, die das Privileg teilen, über einen Reisepass, Meldebestätigung nebst Wohnung und das nötige Kleingeld zu verfügen, stellt ein Atlas ein Verzeichnis von Orten dar, die sie potentiell bereisen könnten, von Landschaften und Städten, die sie besichtigen möchten. Der Atlantik oder das Mittelmeer stehen für sie für Segeltörns, Wasserski, Schnorkeln, Tauchen, oder einfach Abhängen am Strand – Symbole des Vergnügens, Erholung und Freizeit.
Laura Markert, Yvonne Moser und Lilli Scheuerlein studierten gemeinsam Kommunikationsdesign an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Mit ihrem studentischen Projekt haben die drei Frauen nun einen Atlas gänzlich anderer Art entworfen – einen Atlas der Flucht und Vertreibung.
"Jede Sekunde fliehen zwei Menschen.", ein einfacher Satz in kleinen Lettern gedruckt auf einer ansonsten leeren Seite. Diese Aussage verdeutlicht das Ausmaß, die Aktualität und Wichtigkeit der behandelten Thematik. In dem darauffolgenden Prolog stellen die Autorinnen Fragen, die wachrütteln, die beschämen und zum Nachdenken anregen: "Wir sehen die gebrochenen Menschen, die hier ankommen. Doch wir blenden aus, dass sie eine unvorstellbare Reise hinter sich haben. Wir sehen sie, doch nehmen sie nicht wahr. Aber was, wenn es immer mehr werden? Können wir das einfach ignorieren? In den Nachrichten wieder und wieder Berichte über Hunderte von ertrunkenen Flüchtlingen vor Lampedusa sehen und das als normal empfinden?"
In drei Themenkomplexen beantworten die Autorinnen diese Fragen anhand von Infographiken, Photographien und Kurztexten. "Heimat", "Flucht" und "Schutz" dokumentieren die Herkunft der Geflüchteten, ihre Fluchtgründe und zeichnen ihre Fluchtwege nach. Anschließend finden ihre Existenzen als Asylsuchende in Deutschland mit großformatigen Bildern Darstellung.
Fluchtbewegungen damals und heute
Hervorstechend ist eine Kreisgraphik, die Flüchtlingszahlen zwischen 1944-1950 und 2013, bzw. 2015 vergleicht. Die mattschwarze Kreisgraphik, die 14,000,000 Flüchtlinge verbildlicht, die während und nach des Zweiten Weltkrieges Deutschland verlassen mussten, ist im Vergleich zu den 109,580 Menschen, die 2013 in Deutschland Asyl beantragten, überwältigend groß. So stellen die Autorinnen die aktuellen Zahlen im direkten Vergleich zu dem, was einst in Deutschland geschah und wollen so die Stimmen widerlegen, die von einer nicht zu bewältigenden "Flut" von Flüchtlingen sprechen.
Menschen fliehen nicht ohne Grund
In kunstvoll und zugleich verstörend gestalteten Portraitphotos, auf denen die Menschen anhand von künstlerischen Elementen unkenntlich gemacht wurden, werden die Fluchtgründe einzelner Menschen beschrieben. "Sie musste fliehen, weil sie ihrer Tochter die traditionelle Beschneidung ersparen wollte. – Syrien", "Da er sich gegen die Rekrutierung zum Kindersoldaten entschied, versuchten Milizen ihn umzubringen. Ihm blieb nichts anderes, als zu fliehen. – Somalia", "Terroristen brannten das Haus seiner Familie nieder. Mit seiner Mutter konnte er fliehen, Vater und Bruder wurden gefangen genommen. – Afghanistan". Diese kurzen Beschreibungen wirken, gepaart mit der Photographie, zutiefst erschütternd.
Genauso die schlichten Photographien von einfachen Objekten, die die Menschen mit sich nehmen – eine Koranausgabe, Gebetsperlen, Wasserflaschen, Dokumente, die in Plastik gewickelt sind, oder auch eine Handvoll Rosinen, die den Tagesenergiebedraf decken müssen. Den Flüchtenden begegnen auf ihrem langen Weg nach Europa neben Hunger, Durst, Kälte und Hitze auch die Grenzpolizei, Schlepperbanden und Diebe, für die erschöpfte Menschen leichte Beute sind. Das wenige Hab und Gut, das die Flüchtlinge mit sich tragen, unterstreichen nur ihre desperate Situation.
Das Mittelmeer – ein Massengrab
Das Mittelmeer, für manche Menschen ein beliebtes Reiseziel, ist zugleich ein Massengrab. Die Autorinnen halten mit weißen Buchstaben auf Photographien von dunklem Meereswasser die Informationen und persönlichen Erlebnisse der Flüchtlinge fest: "Ich hatte gute Freunde, mit denen ich aus Eritrea abgereist bin. Sie sind ertrunken, während ich überlebt habe." Hinter diesem Satz verbirgt sich ein Trauma, das den Menschen sein Leben lang begleiten und verfolgen wird.
Die Autorinnen sprechen neben Einzelschicksalen auch über europäische Institutionen, die den Tod an Europas Grenzen nicht nur teilnahmslos annehmen sondern aktiv bewirken. "Frontex", die Agentur zur Grenzsicherung der EU-Mitgliedstaaten wird vom EU-Parlament finanziert: "Die Staaten geben immer mehr Geld für die Kontrolle der Grenzen aus. Dadurch werden mehr und mehr Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen abgedrängt."
Im gesellschaftlichen Abseits
Der Unwille, sich mit den globalen Fluchtbewegungen auseinanderzusetzen spiegelt sich auch im dritten Kapitel "Schutz" wider, das von einem großformatigen Bild eines Maschendrahtzauns eingeführt wird. Flüchtlinge leben in Massenunterkünften, dürfen nicht arbeiten und sich nicht frei bewegen. Nach der traumatisierenden Fluchterfahrung werden die Meisten ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und leiden oft unter psychischen Erkrankungen, die bis zum Suizid führen. Manche warten jahrelang auf die Bearbeitung ihres Asylantrags, die ständige Furcht vor der Abschiebung dominiert ihren Alltag: "Das ist warten… ohne zu wissen, ob man dort jemals richtig ankommen und weiterleben darf."
Der Fluchtatlas ist nicht nur künstlerisch anspruchsvoll und fein gestaltet. Es gelingt ihm, zwischen harten Fakten, persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Diskursen eine visuelle Brücke zu bauen. Seite für Seite werden den Leser_innen neue Informationen vermittelt, die bewegend und schockierend sind. Die ausdrucksstrake Photographie – nie von Menschen, immer von Objekten, Gebäuden und Zimmern – lässt die drückende Last, das Trauma und die Hoffnungslosigkeit spürbar werden. Nicht umsonst wurde das Werk mit dem German Design Award und dem Art Directors Club Germany Gold ausgezeichnet.
AVIVA-Tipp: "Fluchtatlas" ist ein Dokument, das eine der relevantesten Themen unserer Zeit hervorragend und mit viel Feingefühl darstellt. Mit klaren Graphiken, prägnanten Texten, ausdrucksstarken Photographien und Illustrationen haben die Autorinnen ein Werk kreiert, das unter den zahlreichen Büchern und Artikeln, die sich aktuell mit Flucht beschäftigen, seinesgleichen sucht.
Zu den Autorinnen:
Laura Markert (1993) studierte Kommunikationsdesign in Würzburg und Fotografie in Istanbul. Sie arbeitet als freiberufliche Fotografin und Grafikdesignerin.
Yvonne Moser (1990) studierte Kommunikationsdesign an der Fakultät Gestaltung Würzburg. Sie arbeitet als freiberufliche Grafik-Designerin und Cutterin.
Lilli Scheuerlein (1992) absolvierte ihr Kommunikationsdesign-Studium in Würzburg und gründete dort das Hochschulmagazin der Fakultät Gestaltung.
Laura Markert, Yvonne Moser und Lilli Scheuerlein
Fluchtatlas
Edition Büchergilde, erschienen Juni 2016
Hardcover, Geprägtes Leinen mit Lesebändchen, Fadenheftung, durchgehend vierfarbig, Format 24 x 34 cm, 144 Seiten
ISBN 978-3-86406-078-6
32,00 Euro
www.edition-buechergilde.de
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