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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.06.2013


Laurence Anyways. Ein Film von Xavier Dolan. Kinostart: 27. Juni 2013. Verlosung
Sabine Reichelt

Nachdem seine letzten beiden Filme Meisterwerke waren, hat der kanadische Regie-Shootingstar sich diesmal ... AVIVA verlost 1x2 Kinofreikarten und 1 Kinoposter




... nicht recht entscheiden können, worauf er sich konzentrieren will. Der ambitionierte Sturm aus Musik und Bildern hinterlässt einen großen Eindruck, fegt in aufreibenden 160 Minuten aber schonungslos über Handlung und Figuren hinweg und droht sie dabei zu erdrücken.

Als ich das Kino verlasse, fühle ich mich regelrecht erschlagen. Erschlagen von Bildern, Tönen und Worten. Selbst für den klimatisiertesten Saal und den bequemsten Sessel ist dieser Film mit seinen knapp drei Stunden zu lang, das Zuschauen anstrengend. Dabei stellt er die ganz große Frage: Wovon hängt ab, wen ich liebe? Vom Geschlecht der anderen Person? Oder von ihrem Charakter, ihren inneren Werten?

Fred (Suzanne Clément) ist seit zwei Jahren mit Laurence (Melvil Poupaud) zusammen. Beide führen eine glückliche Beziehung. Gemeinsam erstellen sie Listen mit "Dingen, die uns den Spaß vermiesen", kiffen wild kichernd im Auto und freuen sich an jedem Morgen, neben der anderen Person aufzuwachen. Laurence lehrt Literatur an einem Gymnasium, schreibt außerdem an einem Roman, Fred arbeitet beim Film. Doch dann offenbart Laurence seiner Freundin, dass er sich schon immer als Frau und gefangen im Körper eines Mannes fühlt. Sie reagiert zuerst entsetzt, schockiert, kann Laurence nicht verstehen, hält eine Trennung für die logische Konsequenz. Später setzt ihr Fragen ein: Liebt sie Laurence nur als Mann? Oder als Person, egal welchem Geschlecht er_sie sich zugehörig fühlt?

Laurence und Fred versuchen ihre Beziehung zu retten, scheitern, verlieren sich aus den Augen, finden sich wieder... und reden, reden, reden. Der Rest des Films zeigt – zu lang – dass beide weder mit-, noch ohneeinander so richtig leben können. Das liegt einerseits an der Gewalt der Außenwelt: Laurence wird gekündigt, weil transphob-besorgte Eltern Angst um ihre Sprösslinge haben. Er wird angestarrt und zusammengeschlagen. Zu den eindrücklichsten Szenen des Films gehört Freds Ausraster in einem Café, bei dem deutlich wird, wie sehr die feindliche Gesellschaft die Beziehung der beiden belastet. Dabei brilliert besonders Suzanne Clément und lässt die Figur der Fred beinahe zur Hauptrolle werden.

Xavier Dolan erzählt höchst ambitionierter – in einem Interview nennt er als seine Einflüsse u.a. Nan Goldin, Mondrian, Klimt und "Das Schweigen der Lämmer" – und mit maximaler Bild- und Tongewalt: Gesichter werden in ruhigen Nahaufnahmen gezeigt, bunte Wäschestücke fallen vom Himmel, während Laurence und Fred die Straße hinunterlaufen, ein Herbststurm wirbelt Blätter um die Protagonistinnen. Und dann diese Musik! Klassisches trifft hier auf The Cure, Depeche Mode oder Chanson, der emotionale Aufruhr im Inneren der Figuren wird mit Beethovens Fünfter illustriert.

Das Regiewunderkind, das bereits für sein Erstlingswerk "I Killed My Mother" viel Anerkennung und zahlreiche Auszeichnungen erhielt, ist in "Laurence Anyways" außerdem für Drehbuch, Schnitt und Kostüme verantwortlich. – Und verliert dabei leider sein Ziel aus den Augen. Auch die gelungensten Bild-und-Ton-Kompositionen, die cleversten Metaphern und treffendsten Allegorien führen nach spätestens zwei Stunden zu Ermüdung und Überforderung. Würde mensch 180 Minuten am Stück Musikvideos anschauen – sehr kunstvolle, ohne Frage, und von ausgezeichneter Qualität –, wäre das Seherlebnis wohl ein ähnliches.

Und so verschluckt die Form Teile des Inhalts. Themen, die ohne weiteres in einen queer-theoretischen Rahmen eingebettet werden könnten, haben keinen Raum mehr. Denn eigentlich hat Vieles im Film das Potential, mit Judith Butler und Co. hinterfragt zu werden: Was ist "Normalität"? Will ich "normal" sein? Kann ich das selbst entscheiden oder tun das andere für mich? Aber wer? Meine Familie? Freund_innen? Oder die Gesellschaft? Das bleibt der interessierten Zuschauerin dann nach dem Kinobesuch überlassen.

Zum Regisseur: Xavier Dolan ist Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, und Synchronsprecher. Geboren 1989 in Montréal beginnt er seine Schauspielkarriere in Werbespots für eine Apothekenkette. Später übernimmt er Rollen in verschiedenen kanadischen Filmen wie "J´en suis !" und "La forteresse suspendue" sowie in verschiedenen Fernsehserien. Bereits mit seiner ersten Arbeit als Regisseur und Drehbuchautor gelingt ihm der Durchbruch: "J´ai tué ma mère – I killed my mother" (2009) wird mehrfach ausgezeichnet, in Cannes gezeigt und als kanadischer Beitrag bei den Oscars und den Césars eingereicht. 2010 folgt, ebenfalls hochgelobt, "Herzensbrecher", in dem Dolan, wie bereits bei seiner ersten Regiearbeit, selbst eine Hauptrolle übernimmt. "The Hollywood Reporter" pries ihn als "Kanadas Antwort auf Pedro Almodóvar."

AVIVA-Fazit: "Laurence Anyways" hat sehr starke Momente, auch in den Nebenrollen reizvolle Charaktere und viele hervorragende Szenen, aber als Ganzes ist der Film nicht rund. Er ist überladen und die Zuschauerin überfordert von der barocken Ausstattung, den überzähligen Wortgefechten und Aussprachen und dem Hin-und-Her der Handlung. Am Ende ist Laurence nicht einmal mehr sympathisch, sie ist selbstgefällig und egoistisch geworden.


AVIVA-Berlin verlost 1x2 Kinofreikarten und 1 Kinoposter. Bitte senden Sie uns den AVIVA-Tipp aus unserer Rezension zu I AM A WOMAN NOW. Ein Film von Michiel van Erp bis zum 10.07.2013 per Email an folgende Adresse: info@aviva-berlin.de


Laurence Anyways
Kanada 2012
Buch und Regie: Xavier Dolan
Produktion: Lyse Lafontaine
Ausführende Produzent_innen: Lyse Lafontaine, Joe Iacono, Xavier Dolan
Koproduzenten: Nathanaël Karmitz, Charles Gillibert
Darsteller_innen: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye, Monia Chokri, Susie Almgren, Yves Jacques, Sophie Faucher, Magalie Lépine-Blondeau, David Savard, Catherine Bégin, Emmanuel Schwartz, Jacques Lavallée, Pérrette Souplex, Patricia Tulasne
Kamera: Yves Bélanger
Kostüme: François Barbeau
Musik: Noia
Ton: François Grenon, Sylvain Brassard, Olivier Goinard
Länge: 159 Minuten
Verleih: NFP marketing & distribution*
Kinostart: 27. Juni 2013
laurenceanyways-derfilm.de
www.youtube.com

Weitere Informationen:

www.xavier-dolan.com

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I Killed My Mother - J´ai Tué Ma Mère – Ein Film von Xavier Dolan (2011)

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Trans*_Homo. Differenzen, Allianzen, Widersprüche. Herausgegeben von Justin Time und Jannik Franzen (2012)




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Beitrag vom 21.06.2013

Sabine Reichelt