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Beitrag vom 03.06.2003
Der Witwer von Venedig - oder eine Obduktion macht noch lange kein Theaterstück...
Gaby Miericke-Rubbert
Die neue Inszenierung Der Witwer von Venedig des Theaters zum Westlichen Stadthirschen. AVIVA verlost 5x2 Freikarten
Selbst Augengläser, Lupen und Lorgnons helfen den obduzierenden Ärzten nicht weiter. Das hat die aus Eifersucht, aber kühlen Verstandes mordende Schwiegermutter wohlwissend in ihre Pläne und Taten einbezogen, so dass auch bei der Obduktion der vierten verstorbenen Frau ihres abgöttisch geliebten Sohnes keine toxischen Rückstände gefunden werden können.
Wir schreiben das Jahr 1766, ein Bote überbringt in Venedig dem Tuchfabrikanten Alvise Lanzi die Nachricht vom Tod seiner Frau, worauf dieser nur lakonisch "Schon wieder?" antworten kann. Lanzi hat Pech mit seinen Gemahlinnen, sie sterben ihm weg wie die Fliegen.
Und das wird uns in immer neuen Varianten berichtet. Fünf SchauspielerInnen im 50er-Jahre-Cocktail-Outfit wollen uns das Venedig des ausgehenden 18. Jahrhunderts nahebringen, die Dekadenz, Verruchtheit, Verlogenheit einer mürben spielerisch-frivolen Rokoko-Gesellschaft. Die Handlung wird selten szenisch gespielt, eher deklamiert von Erzählern, Spionen und briefeschreibenden Damen.
Dabei geht es nicht nur um das Leben und Sterben der Lanzi-Ehefrauen, sondern auch und vor allem um sexuelle Obsessionen, Perversionen, Vergewaltigung, Sado-Maso-Praktiken. Sex, Brutalität and Crime an allen Ecken und Enden, bis man sich endlich auf dem Hundeniveua wiederfindet und über die Bühne krauchend den Vierbeinern schwanzwedelnd bellend, hechelnd und knurrend Konkurrenz machen kann. Ursula Renneke als talentierte Hundedarstellerin!
Venedig als "Metropole der Maskerade, der Spitzelei und Denunziation", aber auch der Lust und Gewalt zwischen Casanova und de Sade. Die Figuren eilen auf der kargen Bühne in dem abgehalfterten Tacheles-Szenario ums Viereck hin und her, zusammenhängende Handlungsstränge sind nicht vorgesehen, vieles wird angedeutet, um bald wieder abgebrochen zu werden.
Angekündigt als "tableau vivant eines Albtraums zwischen Trash und Philosophie, Melodrama und literarischem Genuss" war allerdings von "Philosophie und literarischen Genuss" nichts zu spüren. Stattdessen kann frau Lektionen über Analpraktiken oder über toxische Wirkungen von Wildkräutern über sich ergehen lassen.
Die Dekadenz, Perfidie und Morbidität einer spätmittelalterlichen, venezianischen Gesellschaft, wen lockt das heute noch ins Theater, wen könnte das noch schockieren, provozieren, weltverbessern oder einfach nur unterhalten?
Vielleicht könnte der Roman selbst uns noch etwas mehr zumindest spannende und intelligente Kriminalunterhaltung bieten. Die Autorin Gabrielle Wittkop, gebürtig in Nantes, verheiratet mit einem homosexuellen deutschen Wehrmachtsdeserteur schien als Schriftstellerin und Übersetzerin von Adorno, Handke und Hildesheimer, zumindest eine interessante Persönlichkeit gewesen zu sein.
Mit dem Versuch, diese morbide Geschichte auf die Bühne zu bringen, haben die westlichen Theaterhirschen statt einer aufschlußreichen Obduktion eher professionelle Leichenfledderei betrieben, die uns, wie die venezianischen Ärzte, ratlos zurücklässt. Also warten wir lieber auf bessere Zeiten und auf die nächste Produktion dieser engagierten Truppe.
Der Witwer von Venedig
nach einem Roman von Gabrielle Wittkop
Regie & Bühnenfassung: Agnese Grieco
Bühne: Isolde Wittke
Kostüme: Goia Raspé
DarstellerInnen: Emily Behr, Maria Gräfe, Ursula Renneke, Dominik Bender und Julian Mehne
Theater zum Westlichen Stadthirschen
zu Gast im Tacheles im "Goldenen Saal"
Oranienburger Str. 54-56
10117 Berlin-Mitte
Weitere Aufführungen im Juni: 04.-08., 18.-21., 24.-26. und 28. Juni 2003
Karten unter: 030- 785 70 33