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Beitrag vom 05.07.2011
Hitzige Debatte und Reaktionen zum geplanten Betreuungsgeld
Britta Meyer
Der Ausschuss des Bundestags für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat am 4. Juli 2011 in einer öffentlichen Anhörung zur Einführung der "Herdprämie" diskutiert. Geladene ExpertInnen...
... lehnten dabei die Pläne der Bundesregierung ebenso scharf ab, wie es Gewerkschaften und Familienverbände tun.
Anlass der Beratung waren ein Gesetzentwurf der Grünen für einen verstärkten Ausbau der frühkindlichen Förderung in Erziehungseinrichtungen und ein Antrag der SPD-Fraktion, zugunsten eines solchen Ausbaus auf das ab 2013 geplante Betreuungsgeld zu verzichten. Ein Betreuungsgeld von 150 Euro im Monat würden Eltern erhalten, die ihr Kind in den ersten drei Lebensjahren nicht in einer Kindertageseinrichtung betreuen lassen, sondern dies selber wahrnehmen. Dies würde voraussichtlich etwa 2 Milliarden Euro im Jahr kosten.
ExpertInnen schätzen Betreuungsgeld als verfassungsfeindlich und unsozial ein
Als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar bezeichnete die zur Anhörung geladene Expertin Ute Sacksofsky, Professorin für Öffentliches Recht und Rechtsvergleich, das auch "Herdprämie" genannte Betreuungsgeld. Es verstoße sowohl gegen den Schutz der Familie als auch gegen den Auftrag zur Förderung der Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Jede Familienform müsse dem Staat gleich viel wert sein, sagte Sacksofsky. Durch die Zahlung eines Betreuungsgeldes werden aber Alleinerziehende deutlich benachteiligt. Zudem fördere und zementiere es die überkommene Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. In der Theorie könne das Betreuungsgeld zwar von allen Geschlechtern gleichermaßen bezogen werden, in der Praxis würde die Betreuung von Kleinkindern jedoch nach wie vor überwiegend von den Müttern übernommen, so Sacksofsky.
Auch Michael Klundt, Professor für Angewandte Humanwissenschaften und Svenja Pfahl vom Institut für sozialwissenschaftlichen Transfer sprachen sich gegen die Einführung eines Betreuungsgeldes aus. Die ExpertInnen warfen der Regierung vor, sich mit der Herdprämie von ihrer Verpflichtung zur ausreichenden Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen freikaufen zu wollen. Auch ein Zugewinn an Wahlfreiheit sei durch ein Betreuungsgeld nicht gegeben, solange nicht auch ausreichend Kitaplätze vorhanden seien, um tatsächlich wählen zu können.
Einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2009 zufolge würde fast die Hälfte der teilzeitbeschäftigten Mütter bei Einführung des Betreuungsgeldes aus dem Berufsleben austreten. Schon heute sind 71,8 Prozent aller Mütter mit Kleinkindern nicht berufstätig. Die Herdprämie würde damit die Gefahr der Altersarmut für Frauen zusätzlich verschärfen.
"Herdprämie gehört ins vorherige Jahrhundert"
Auch die Business and Professional Women (BPW) warnen vor dem Betreuungsgeld. "Wer für Frauen einen Anreiz schafft, nach der Geburt eines Kindes zu Hause zu bleiben anstatt schnell in den Beruf zurückzukehren, stärkt die althergebrachten Rollenbilder des männlichen Alleinverdieners und der geringfügig beschäftigten Ehefrau – mit den bekannten Folgen wie prekäre Lebensverhältnisse nach einer Trennung sowie Altersarmut. Eine Herdprämie ist reaktionär und gehört ins vorige Jahrhundert", so Henrike von Platen, die Präsidentin des BPW. Das Betreuungsgeld würde außerdem die soziale Ungleichheit in Deutschland verschärfen. Gerade für einkommensschwache Haushalte wäre es ein entscheidender Anreiz, im Zweifel auf eine Kindertagesstätte zu verzichten.
Insgesamt 21 Verbände und Gewerkschaften, darunter der Deutsche Juristinnenbund (djb), der Deutsche Frauenrat, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter, der Verband berufstätiger Mütter und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sprachen sich in einer Mitteilung einstimmig gegen das Betreuungsgeld aus und erklärten, die Herdprämie sei eindeutig nicht im Sinn der Kinder. "Es wäre geradezu fatal, wenn aufgrund eines Betreuungsgeldes von 150 Euro sozial schwache Familien darüber nachdenken müssten, was sie dringender benötigen: das Geld oder ein gutes Bildungs- und Förderungsangebot für ihre Kinder", erklärte der AWO Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.
Der Zweite Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes zeigt auf, dass der Ausbau der Kitas bis 2013 noch um einiges gesteigert werden muss, um das von der Regierung gesetzte Ziel einer bundesweiten Betreuungsquote von 35 Prozent zu erreichen. "Würde das Geld hier eingesetzt, könnten vor allem die Kinder davon profitieren", unterstreicht auch die Vorsitzende des Zukunftsforum Familie (ZFF), Christiane Reckmann.
Weitere Informationen finden Sie unter:
21 Verbände und Gewerkschaften erklären: Betreuungsgeld nicht im Sinne der Kinder
Gesetzentwurf der Grünen zur Aufhebung der Ankündigung eines Betreuungsgeldes
Antrag der SPD-Fraktion: Auf die Einführung des Betreuungsgeldes verzichten
Zweiter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes
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