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Beitrag vom 03.09.2010
Kongress Streitsache Sexualdelikte - Frauen in der Gerechtigkeitslücke
Britta Meyer
In den letzten acht Jahren gelang es mit Hilfe des Gewaltschutzgesetzes, Verbesserungen für Betroffene häuslicher Gewalt zu erreichen. Bei Sexualstraftaten ist eine entgegengesetzte Entwicklung...
... festzustellen. Viele Ermittlungsverfahren werden eingestellt und es kommt gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung.
Am 2. September 2010 veranstaltete der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe e.V. (bff) den Kongress "Streitsache Sexualdelikte - Frauen in der Gerechtigkeitslücke" in Berlin. Der Kongress widmete sich den Fragen, welche Hürden die Strafverfolgung bei Vergewaltigung erschweren und woran es liegt, dass die Verfahren für die Betroffenen, aber auch für die Beteiligten aus Polizei, Justiz sowie Unterstützungseinrichtungen so unbefriedigend verlaufen. Ein Ziel war die interdisziplinäre Diskussion der beteiligten ExpertInnen aus Forschung und Praxis.
Die EU-weite Studie "Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases in eleven countries" zeigt, dass in Deutschland in nur 13 Prozent der angezeigten Fälle eine Verurteilung erfolgt. Vergewaltigung kann somit als ein für die meisten Täter "sicheres Delikt" gewertet werden, auch wenn spektakuläre Fälle mit hohem Medieninteresse das Gegenteil suggerieren mögen. Während und nach den Verfahren bleibt bei vielen Frauen das Gefühl zurück, als Opfer im Strafverfahren nur eine nebensächliche Rolle wahrzunehmen, nicht verstanden worden zu sein und keine Gerechtigkeit erfahren zu haben. Vergewaltigten Frauen wird heute wieder verstärkt mit Vorbehalten begegnet, oft steht der Verdacht der Falschanschuldigung im Raum. Überall in Deutschland hören FachberaterInnen nach Vergewaltigungsverfahren die Äußerung: "Ich würde nie mehr eine Anzeige erstatten." Seiner eigenen Tochter würde er im Zweifel abraten, eine Vergewaltigung bei der Polizei anzuzeigen, sagte sogar der Berliner Ex-Staatsanwalt Hansjürgen Karge in der ARD-Talkshow "Anne Will".
Sehr hohe Dunkelziffer, geringe Anzeigenquote, noch geringere Verurteilungsquote
Nach einer 2004 vom Bundesfamilienministerium veröffentlichten Untersuchung hat fast jede siebte Frau in Deutschland schon einmal sexuelle Gewalt erlebt. Nur etwa fünf Prozent haben überhaupt Anzeige erstattet. Hierzu stellte Barbara Kavemann von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin auf dem Kongress eine Untersuchung des EU-Projektes "Daphne" vor.
Diese Studie eines ForscherInnenteams der Londoner Metropolitan University wurde 2009 erstellt, ausgewertet wurden nationale Statistiken für den Zeitraum 2001 bis 2007. Sie ergab, dass jährlich etwa 8000 Vergewaltigungen in Deutschland angezeigt werden. In 1400 Fällen pro Jahr wurde Anklage erhoben, die Verurteilungsquote lag bei 13 Prozent. Die Studie zeigt außerdem, dass auch die weit verbreitete Überzeugung, bei einem großen Teil der angezeigten Vergewaltigungen handele es sich um vorsätzlich falsche Anschuldigungen, mittels derer Frauen den jeweiligen Männern Schaden zufügen wollten, nicht auf Fakten beruht. In Deutschland beträgt der Anteil der Fälle, die sich während der Untersuchungen als Falschanschuldigungen erweisen, gerade mal 3 Prozent, auch in anderen europäischen Ländern ist das Problem Falschanschuldigung marginal und rangiert zwischen 1 bis 9 Prozent.
Gesellschaftliche Mythen wirken sich messbar auf die Urteilsfindung aus
Die klassische Vorstellung von einer Vergewaltigung ist die eines unbekannten Täters, der einer jungen, attraktiven Frau nachts an einem einsamen Ort auflauert und sie unter Einsatz brutaler körperlicher Gewalt zum Geschlechtsverkehr zwingt.
Dieses Bild bezeichnete Friederike Eyssel von der Universität Bielefeld als "Vergewaltigungsmythos", ein Bild, das gesellschaftlich geprägt und fest in der allgemeinen Vorstellung verankert ist. Der Grad, in welchem dieser Mythos von einer Person akzeptiert wird, beeinflusst deutlich messbar, wie Informationen zu Vergewaltigungsfällen aufgenommen und verarbeitet werden, welche Informationen beachtet und welche übersehen werden. Je stärker die Abweichung des Tathergangs von diesem Bild, umso mehr neigen Beurteilende beider Geschlechter dazu, das Geschehene nicht als "echte" Vergewaltigung zu definieren und dem Opfer eine Mitschuld zuzuweisen, bzw. den Täter in seinem Handeln zu entschuldigen.
Aber bildet die beschriebene Situation tatsächlich das ab, was bei den meisten Vergewaltigungen geschieht? Statistiken sagen: Nein. 49,3 Prozent aller Vergewaltigungen geschehen durch den aktuellen oder ehemaligen Beziehungspartner, nur 14,5 Prozent durch einen unbekannten Täter, der Tatort ist in 69 Prozent aller Fälle die Wohnung des Opfers.
Vergewaltigungsmythen sind Überzeugungen, die dazu dienen, sexualisierte Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen und sie zu rechtfertigen. Typische Opfermythen sind hier: "Es ist gar nichts passiert", "Es ist der Frau kein Schaden entstanden", "Sie wollte es" und "Sie hat es verdient". Typische Tätermythen sind "Männer können ihren Trieb nicht kontrollieren" und "Vergewaltiger sind geistesgestörte Sonderfälle".
In der allgemeinen Vorstellung geschieht diese Katastrophe also nur Frauen, die sich eines Fehlverhaltens "schuldig" gemacht haben, aber nie einem selbst, nie durch einen nahestehenden Menschen und schon gar nicht in den eigenen vier Wänden. Damit erfüllen Vergewaltigungsmythen eine Funktion als alltagstauglicher "Angstpuffer" für Frauen und zur Relativierung eigener Gewalttendenzen und der Zurückweisung von Schuld bei Männern. Vergewaltigungsmythen dienen als Ausdruck des Glaubens an eine gerechte Welt, in der guten Menschen keine schlimmen Dinge passieren und in der Verbrechen immer aufgedeckt und bestraft werden. Eine hohe Akzeptanz dieser Mythen führt außerdem bei Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind, die nicht in die erwähnten Schemata passt (und die damit also eigentlich dem Durchschnitt einer solchen Tat entspricht) oft dazu, das Erlebte gar nicht als eine "echte" Vergewaltigung einzuordnen und demzufolge auch keine Anzeige zu erstatten.
Die Akzeptanz dieser Mythen zieht sich durch alle Bildungsschichten und durch jede Berufsgruppe. Auch Fachkräfte aus den Bereichen Justiz und Opferberatung sind von diesen tiefsitzenden Schemata keinesfalls frei.
Authentizität vor Gericht ist eine unrealistische Anforderung
Der Kongress ging auch der Frage nach, welche Mechanismen in der Gedächtnisleistung der Opferzeuginnen wirken, wenn sie das Erlebte dann vor Gericht schildern sollen und warum ein Trauma nach sexualisierter Gewalt die Mitwirkung der betroffenen Frauen im Strafverfahren in aller Regel verhindert.
"Wie wollen Sie als Opfer authentisch sein?"
brachte Julia Schellong, Oberärztin für Psychotraumatologie am Universitätsklinikum der TU Dresden, das grundsätzliche Problem der Strafverfolgung auf den Punkt. Sie erklärte hierzu, wie die erlebte Gefahrensituation sich auf die Funktionsweise des menschlichen Gehirns auswirkt. Auf eine extreme Bedrohungssituation wie eine Vergewaltigung reagiert der Körper entweder mit "fight", "flight" oder mit "freeze", mit Wut, Panik oder mit völliger Erstarrung und Ausblenden des Geschehenden. Das Gehirn schaltet in einer solchen Notsituation den rationalen, ruhigen Teil des Verstandes aus, um sich völlig aufs Überleben konzentrieren zu können.
Wird die vom Erlebten traumatisierte Opferzeugin bei Vernehmungen und vor Gericht mit der zurückliegenden Situation konfrontiert, werden die Erinnerungen "getriggert" und sie kann auch noch Jahre später in eben diesen Zustand zurückfallen. Ist die Zeugin sichtlich wütend ("fight"), erscheint sie rachsüchtig und von zweifelhaften Motiven getrieben. Versucht sie alles, um der Situation zu entkommen ("flight"), erzählt sie vielleicht nicht alles und steht als Lügnerin da. Verfällt sie in einen erstarrten Schutzzustand der emotionalen Abschottung ("freeze"), so wirkt sie distanziert und unglaubwürdig. Darüber hinaus kann sich die Zeugin oftmals nicht mehr an Details erinnern, die während der Vergewaltigung irrelevant für ihr Überleben gewesen sind und muss deshalb ihre Gedächtnisleistung als Ganzes in Zweifel ziehen lassen.
Eine Anzeige kann also unter Umständen nicht dazu beitragen, das Erlittene zu verarbeiten, sondern die Frau im Gegenteil erneut in eine ohnmächtige Situation bringen, in der ihr zudem kein Glauben geschenkt wird. Schellong rät betroffenen Frauen darum, Nebenklage einzureichen und sich dazu eineN erfahreneN AnwältIn zu nehmen. DieseR kann die Zeugin adäquat auf das im Verfahren zu Erwartende vorbereiten und so einer erneuten Traumatisierung im Gerichtssaal möglicherweise vorbeugen. Sigrid Bürner vom bff fordert: "Ein Vergewaltigungsverfahren sollte für die Opfer eine kalkulierbare Erfahrung von Gerechtigkeit und öffentlicher Anerkennung ihres Leidens sein. Dafür ist es wichtig, dass alle am Verfahren Beteiligten eine spezifische Aus- und Fortbildung zum Thema Sexualdelikte und Umgang mit traumatisierten Opferzeuginnen haben." Der bff fordert außerdem, dass alle Betroffenen Zugang zu professioneller psychosozialer Prozess- bzw. Zeuginnenbegleitung bekommen.
Weitere Informationen finden Sie unter:
Streitsache Sexualdelikte: Zahlen und Fakten
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe
Lesen Sie hierzu auch die Studie des EU-Projektes "Daphne":
"Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases in eleven countries"
und den Bericht des BMFSFJ: "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland"
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Start der Berlinweiten Kampagne gegen häusliche Gewalt am 25. August 2010
(Quellen: BMFSFJ, Seith, Lovett und Kelly (2009), SPIEGEL)