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Beitrag vom 29.01.2013
Na endlich - die Sexismus-Debatte
Claire Horst
Wer jetzt noch nichts davon mitbekommen hat, war die letzten Wochen nicht in Deutschland – oder konsumiert aus Prinzip keine Medien. Seit die Zeitschrift "Der Stern" einen Artikel über das...
... übergriffige Verhalten eines hochrangigen Politikers veröffentlichte, wird der alltägliche Sexismus plötzlich als ernstzunehmendes Problem wahrgenommen.
Selbst Zeitungen, die sich bisher nicht gerade als Speerspitze des Feminismus auszeichneten, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich zu positionieren. Wer oder Wem nichts anderes einfällt, die/der sinniert zumindest darüber, ob Rainer Brüderle sich bei Laura Himmelreich, der Autorin des Artikels, entschuldigen sollte. Auf diese banale Frage lief zumindest die gestrige Diskussion bei Günther Jauch hinaus – der im Anschluss an die Bar lud und hoffte, er werde dort nicht mit den Männern allein stehen, höhö. Dass er nicht verstanden hat, was Sexismus ausmacht, hat der Moderator allein mit dieser Bemerkung schon bewiesen. Ebenso wie mit dem an sich schon unverschämten Titel "Herrenwitz mit Folgen – hat Deutschland ein Sexismus-Problem?" und unzähligen müden Sprüchen über das "Enteiern des Moderators." Hat Deutschland ein Sexismusproblem? Was für eine Frage.
Genau deshalb wird ihr Mut, die unangenehme Begegnung mit Brüderle publik zu machen, Himmelreich schaden – ungestraft verstößt keine gegen die Regeln des Politjournalismus. Und trotzdem ist einiges in Bewegung geraten. Das von der Bloggerin Anne Wizorek in Umlauf gesetzte Hashtag "Aufschrei" wurde schon innerhalb der ersten beiden Tage 25.000 Mal weitergetwittert. Ein derart deutlicher Beweis dafür, wie weit Erfahrungen mit sexistischen Übergriffen verbreitet sind, lässt sich nicht mehr so einfach ignorieren.
Die Einträge auf der im Anschluss eingerichteten Webseite "Alltagssexismus" sind erschütternd. Ob die Transfrau von den ständigen unerbetenen sexuellen Angeboten berichtet, die Mutter von der "witzigen", an ihre 2-jährigen Töchter gerichteten Anmache des 40-jährigen Nachbarn, die Schülerin, die von den Bemerkungen ihres Lehrers über ihre Brüste erzählt, die Frau, die von einem "Freund" vergewaltigt wurde, die Frau, deren Sparkassenberater nur mit ihrem Mann reden möchte: Gemeinsam ist allen Schreiberinnen, dass ihnen die Erfahrungen an die Substanz gehen.
Dennoch hat der Stern nicht nur Zustimmung bekommen. Kritik an der Veröffentlichung kommt aus zwei Richtungen. Die einen kritisieren den Zeitpunkt: Ein ganzes Jahr nach dem Übergriff, pünktlich zur Nominierung Brüderles zum Spitzenkandidaten der FDP, machte Himmelreich sein Verhalten publik. Klar parteipolitisch motiviert, wird moniert. Stimmt, das kann kritisiert werden. An den Vorwürfen ändert es aber nichts.
Der zweite Kritikpunkt richtet sich gegen die Vorwürfe selbst. Albern sei das, wird geschrieben, unnötig und völlig übertrieben. Der Artikel bewirke, dass Männer und Frauen sich überhaupt nicht mehr unbefangen begegnen könnten, und zwischen Journalistinnen und Politikern richte er ein völliges Unheil an. So verschiedene JournalistInnen wie Wibke Bruhns und Franz Josef Wagner bilden plötzlich eine Allianz für das "Flirten", wie die sexistischen Übergriffe genannt werden. Bruhns, die erste Nachrichtensprecherin Deutschlands überhaupt, hatte ihre Ausbildung bei der Bildzeitung aus politischen Gründen abgebrochen, Wagner ist Chefkolumnist der Bild. Beide finden, das Verhalten Brüderles solle nicht überbewertet werden. "Was ist daran schlecht, wenn ein 67-jähriger Mann mit einer 28-jährigen "Stern"-Reporterin an einer Bar betrunken ist.", fragt Wagner in seiner Kolumne, die auch ohne Verlinkung leicht im Internet zu finden ist, und übersieht absichtlich, worum es eigentlich geht:
Nicht einvernehmliches Flirten wird hier diskutiert, sondern übergriffiges, respektloses Verhalten, ein Verhalten, das aus der unterschiedlichen Machtposition heraus erst möglich wird. Niemand hat etwas gegen gemeinsames Betrunkensein einzuwenden. Aber dass Frauen Anzüglichkeiten ertragen müssen, weil sonst der Job in Gefahr ist, Anmachen in Kauf nehmen müssen, "weil die Männer eben so sind", die Zeiten sollten ein für alle Mal vorbei sein. Sexismus ist keine Lappalie, und zum Glück reagieren sehr viele Männer mit Solidarität.
Dass Männer als Verteidiger ihrer übergriffigen Geschlechtsgenossen reagieren und zugleich den Frauen vorwerfen, Geschlechterkampf betreiben zu wollen, ist kaum zu begreifen. "Ich flirte für mein Leben gern", gibt Brüderles Parteifreund Wolfgang Kubicki bekannt – und damit auch seine vollkommene Ignoranz der Unterschiede zwischen Flirt und Belästigung. Auch Frauen seien TäterInnen, werfen andere sofort ein, und schon wird auf allen Kanälen wieder über Sorgerechtsstreitigkeiten, falsche Vergewaltigungsvorwürfe und "Frauen, die sich hochschlafen" diskutiert. Woher kommt dieses Bedürfnis, sich mit den Sexisten zu verbünden, wenn man sich selbst doch nicht als solcher empfindet? Und woher kommt das Bedürfnis, Opfer zu Täterinnen zu machen? Wie auch immer mensch den Coup des "Stern" bewertet, die Veröffentlichung hat eine neue Debatte in Gang gebracht.
Schon einmal ist dem Stern das gelungen: Mit der von Alice Schwarzer initiierten Kampagne "Ich habe abgetrieben" von 1971. Genau wie damals kann die Bewusstmachung des Problems die Situation nur verbessern. Und wenn all die ach so furchtbaren Schreckensszenarien eintreffen, die Jauch an die Wand gemalt hat. Was wäre, wenn ein Professor sich nur noch bei geöffneter Tür mit seiner Studentin treffen könnte – wäre das wirklich so viel schlimmer als sexuelle Belästigung? Vielleicht können wir jetzt endlich anfangen, an der Gesellschaft zu bauen, in der wir leben möchten – und für viele von uns wäre das eine, in der Machtstrukturen aufgelöst werden können. Dass drei eloquente, ihren Gegnern haushoch überlegene Frauen von einem machistischen Moderator als hysterische Mädchen dargestellt werden, wäre in einer solchen Welt ebenso unmöglich wie die Schuldumkehr auf Frauen, die ihr Geschlecht ausnutzten.
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