E-Interview mit Iris Hölling, Wildwasser e.V. - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Public Affairs



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 03.10.2003


E-Interview mit Iris Hölling, Wildwasser e.V.
Ilka Fleischer

Anlässlich des 20-jährigen Wildwasser-Jubiläums befragten wir die Berliner Geschäftsführerin Iris Hölling zur Zwischenbilanz des Politikums "sexueller Missbrauch"





1983 entstand Wildwasser als erstes bundesdeutsches Projekt zum Thema "sexueller Missbrauch". Vor einigen Tagen ging der Jubiläumskongress zu Ende, der unter dem Titel "Parteiliche Arbeit gegen sexuelle Gewalt - Herausforderungen für die Zukunft" stand.


Der Kongress wurde mit dem Thema "Öffentlicher Blick auf das Thema sexueller Missbrauch in seiner Entwicklung von 1983 - 2003" eingeleitet. Welchen Wandel hat es aus Ihrer Sicht in Deutschland gegeben?
Es ist ein gewisses öffentliches Bewusstsein über sexuelle Gewalt entstanden, es gibt Unterstützungsangebote für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Die Thematisierung in der Öffentlichkeit verläuft aber in Wellen. Im Moment gibt es nicht besonders viel Aufmerksamkeit für das Thema, es sei denn in skandalisierter Form. Sexuelle Gewalt findet den Weg in die Öffentlichkeit immer noch viel zu stark in Form der Verteufelung des "bösen Fremdtäters" und immer noch viel zu wenig in ihrer alltäglichen Form im (familiären) sozialen Nahraum durch Täter und Täterinnen, die das Kind gut kennt. Von einer flächendeckenden gesellschaftlichen Ächtung sexueller Gewalt sind wir immer noch weit entfernt.

Inwiefern hat sich die Arbeit von Wildwasser im Verlauf der beiden Jahrzehnte verändert?
Wildwasser Berlin ist von den Angeboten her größer geworden. Mit Übernahme des Mädchennotdienstes 2001 hat sich die Zielgruppe auf Mädchen in Krisensituationen erweitert. In den Beratungsstellen sind die Hauptzielgruppe neben unterstützenden Personen und Professionellen nach wie vor Mädchen und Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Leider und glücklicherweise hat die jahrelange Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Thema die persönliche und fachliche Kompetenz gestärkt und eine Vielfalt an Beratungsangeboten in Berlin geschaffen. Auch die Vernetzung mit verschiedenen AkteurInnen hat sich deutlich verbessert und intensiviert. In den ersten Jahren kamen vor allem Mädchen und Frauen zu Wildwasser, die sexuelle Gewalt innerhalb der Familie erlebt haben durch Vater, Stiefvater, Onkel usw. In den letzten Jahren wenden sich vermehrt Mädchen und Frauen an Wildwasser, die sexuelle Gewalt in Form von ritueller Gewalt oder Kinderpornographie oder Prostitution erlebt haben.

Welche Neuerungen bringt Gendermainstreaming für die Arbeit von Wildwasser und die Auseinandersetzung mit "sexueller Gewalt" im allgemeinen mit sich?
Wenn Gendermainstreaming ernsthaft umgesetzt würde, könnte es eine weitere Strategie sein, die Situation von Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft zu verändern. Momentan nehmen wir die Bemühungen um Gendermainstreaming noch nicht als besonders engagiert wahr. Außerdem dienen Gendermainstreaming Prozesse in ihrer politischen Umsetzung z.Zt. oft dazu, mädchen- und frauenspezifische Angebote in Frage zu stellen, was ich eher für einen Missbrauch der Strategie halte. Solange Unterschiede in den Chancen von Männern und Frauen bzw. Mädchen und Jungen bestehen - wie es zum Beispiel bei dem Vorkommen sexueller Gewalt ist - , muss es geschlechtsspezifische Angebote geben.

Wo liegen die gravierendsten Unterschiede in Umgang und Unterstützung bei sexueller Gewalt im internationalen Vergleich? Welche Konsequenzen sollten daraus hierzulande gezogen werden?
In England gibt es positive Erfahrungen mit einer Meldepflicht bei sexueller Gewalt. Die professionellen Netze sind dort allerdings auch dafür ausgebildet. Im osteuropäischen Raum gibt es viele (männliche) Nutznießer von Zwangsprostitution und - Migration. Außerdem erschwert die juristische Situation in einigen Ländern die Organisation von Angeboten für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erleben. Das Ausmaß von "Sextourismus" auch durch deutsche Touristen in Ländern des Südens ist enorm, dabei werden sehr viele Kinder und Jugendliche sexuell ausgebeutet. Das Schutzalter sollte überall entsprechend der UN Kinderrechtskonvention bei 18 Jahren liegen und auch bei uns im Ausländergesetz Beachtung finden. Z. T. gibt es in anderen Ländern vergleichbare Prozesse beim Aufbau von Selbsthilfe und Unterstützungsorganisationen wie in Deutschland.

Worin sehen Sie die wichtigste gesellschaftspolitische Herausforderung im Kontext von "sexualisierter Gewalt" gegen Kinder für die Zukunft?
Nach wie vor bleibt das Ziel, sexuelle Gewalt abzuschaffen, eine wirkliche gesellschaftliche Ächtung zu erreichen, ein gesellschaftliches Klima, in dem sexuelle Gewalt nicht mehr möglich ist. Solange sie stattfindet, ist es wichtig, Unterstützungsangebote für Mädchen und Jungen, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben, zur Verfügung zu stellen und weiterhin Öffentlichkeitsarbeit zu initiieren, damit eine gesellschaftliche Ächtung perspektivisch möglich wird.

Was waren für Sie insgesamt die wichtigsten Erfahrungen und Ergebnisse des Kongresses? Was ist Ihre bedeutendste take-home-message?
Das Thema sexuelle Gewalt ist u.a. durch zunehmende Institutionalisierung entpolitisiert worden. Eine Vernetzung mit JournalistInnen ist für Vereine wie Wildwasser notwendig, um das Thema wieder in die Öffentlichkeit zu bringen in einer Weise, die die Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht unsichtbar macht oder skandalisiert. Atmosphärisch war die Offenheit der TeilnehmerInnen für uns ein wichtiges Erlebnis, ebenso wie der Austausch und die Vernetzung.

Was sind Ihre zentralen Ziele für die nächsten 20 Jahre Wildwasser e.V.?
Sexuelle Gewalt verhindern. Eine dem Thema angemessenere Form von Öffentlichkeit herstellen. Unterstützungsangebote für Frauen und Mädchen erhalten und in ihrer Qualität sichern, kontinuierlich weiterentwickeln. Arbeit zu kommerzieller sexueller Ausbeutung in Forschung und Praxis vorantreiben. Den Diversity Ansatz in der Unterstützungsarbeit stärken. Den Schutz von OpferzeugInnen in Strafverfahren verbessern. Vernetzung lokal, national und international verbessern.

Dafür wünschen wir Ihnen viel Erfolg! Vielen Dank, Frau Hölling.



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Beitrag vom 03.10.2003

AVIVA-Redaktion