Jean Améry. Der neue Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.08.2024


Jean Améry. Der neue Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard
Nea Weissberg

Seine in dem Band von 1969 bis 1976 verfassten Aufsätze erschüttern durch ihre aktuelle Brisanz. Améry hatte ein Gespür dafür, wann Antizionismus und Israelkritik in Judenhass umkippt. Seine Essays zeigen, dass auch heute…




… wie schon in den 1970er-Jahren – das Existenzrecht Israels angegriffen und die Judenheit angefeindet wird – in alt-neuen Intensitätsgraden.

Das Massaker am 7. Oktober 2023 im Süden Israels und der explosiv emporschießende Israel- und Judenhass, war wohl für Irene Heidelberger-Leonard, die Professorin an der Université Libre de Bruxelles war, ein bitterer Anlass, um die Aufsätze Jean Amérys ´über sein Judentum und den Antisemitismus in der Linken´ neu zu publizieren.

Amérys Jude-Sein: Selbstbild und Fremdbild

Der Atheist Jean Améry spricht in seinen Schriften nicht vom "Judentum", er wählt den Ausdruck "Jude-Sein", der nicht religiös begründet ist, sondern durch Zuschreibung von außen übertragen wird:
"Ich konstituierte mich als Jude. Allerdings gab es immer auch Hürden, die ich nicht zu nehmen verstand. So zum Beispiel wollte ich um keinen Preis, dass man mir in meine Papiere den obligatorischen Vornamen "Israel" einschreibe. Ich holte mir keinen Pass, weil man mir in diesen das rote "J" hineingestempelt hätte. ("Mein Judentum", 1978, in: Der neue Antisemitismus)

Der große Essayist Jean Améry wird im Jahr 1912 als Hans Maier in Wien geboren; im österreichischen Hohenems aufgewachsen, war ein katholisch getaufter, "nichtjüdischer Jude", – "aus altem vorarlbergischem jüdisch-väterlichen Geschlecht".
In den Lebensbeschreibungen an seine Kindheit sieht er sich noch an Weihnachten durch verschneite Dörfer zur Mitternachtsmette stapfen, hört seine Mutter und seine Tante inbrünstig "Jesus, Maria und Josef!" ausrufen.
Sein Vater wurde 1914 im Ersten Weltkrieg als Tiroler Kaiserjäger in die Armee der Österreichisch-Ungarischen Armee eingezogen und fiel 1916. Zwar weiß auch der junge Hans Maier, dass seine Familie väterlicherseits jüdischer Herkunft ist, aber es hat für ihn zunächst keinen Stellenwert.

Améry glaubte nicht an den G´tt Israels und war mit jüdischer Kultur, Tradition und Religion kaum vertraut. Über seinen Vater schrieb er – den nationalsozialistischen Terminus verwendend – er sei ein "Volljude".
Wesentlich wird seine familiäre jüdische Herkunft für ihn, als er im Jahr 1935 in einem Wiener Café die Zeitung aufschlägt und die Bekanntmachung der Nürnberger Rassegesetze (15. September 1935) liest. Sein "Jude-Sein" wurde von Stunde an vom menschenfeindlich-hässlichen "Stürmer-Bild" pejorativ geprägt und von außen als Maßstab aufgezwungen. Nach dem Lesen der im "Dritten Reich" erlassenen "Nürnberger Rassegesetze" verinnerlichtet er das DEN JUDEN aufoktroyierte Zerrbild.

Die Nationalsozialisten entwarfen eine Hierarchisierung von gesellschaftlich geächteten und entrechteten Menschen, mit dem Ziel, diese restlos zu vernichten. Die "Nürnberger Arier-Gesetze" galten ab dem 28. Mai 1938 auch für das im März "angeschlossene" Österreich, die 9. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 5. Mai 1939 ordnete in Folge weitergehende antijüdische Gesetze an.

Sie dienten als legale Rechtfertigungsgrundlage für die Herabsetzung und forcierten eine Hetzjagd auf die jüdische Bevölkerung im Nationalsozialismus. Als nachträgliche Auswirkung der NS-Rassenideologie waren sie ein Ausgangspunkt des Genozids, des systematisch-industriell gewaltsam vollstreckten präzedenzlosen Massentodes, für den der Name Auschwitz als ein unwiderruflicher existentieller Einschnitt steht.

Nach dem Umzug der Familie von der oberösterreichischen Provinz nach Wien, widmete sich Améry einem innerseelischen Lernprozess, um intellektuelle Kühle und Distanz bemüht.

1938 hieß der Schriftsteller noch Hans Mayer. Das Anagramm Améry wählte er im belgischen Exil. Der Emigrant schloss sich im Zweiten Weltkrieg in Brüssel der Résistance an, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet, gefoltert, zuerst ins Vernichtungslager Auschwitz-Monowitz deportiert und dann nach Bergen-Belsen. Dort befreite ihn im April 1945 die britische Armee.

Eine gründliche Analyse fand Améry im Dezember 1945 bei Jean-Paul Sartre in dessen Artikel "Réflexions sur la question juive" (1946), der zunächst auszugweise im «Porträt eines Antisemiten», in der Zeitschrift "Les Temps Modernes" im Dezember 1945 publiziert wurde.

Sartres formulierte These, eine "Kriegserklärung gegen Antisemiten", besagt, dass "ein Jude einer sei, den die anderen als einen Juden ansehen", prägte Amérys Identität und politische Verpflichtung. Von der nationalsozialistischen "arischen" Weltanschauung ausgestoßen, hatten Juden all ihre Bürgerrechte verloren, einschließlich des Rederechts; sie wurden täglich beleidigt und mussten schweigen; Sie wurden massenhaft als Juden deportiert. Von da an entwickelte Jean Améry für sich die Kraft des Widerspruchs, sodass für den Essayisten jedes Wort als Grundsatzerklärung wertvoll wurde.

Im Jahr 1978, das Jahr, in dem Jean Améry in Salzburg seinen geplanten Selbstmord gründlich vorbereitete, schrieb der Essayist den Artikel "Mein Judentum".

Ein aus der Gesellschaft Entrechteter

Der Holocaustüberlebende Jean Améry (1980, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten) sagte, wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert, er kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag in vollem Umfang eingestürzte Weltvertrauen wird nicht mehr wieder gewonnen. In den über viele Jahre lebensbedrohlich Verfolgten und zutiefst gedemütigten Holocaustopfern entstand eine innere Welt des völligen Verlassen-Seins. Die traumatische Realität zerstörte das Urvertrauen in die Mitmenschlichkeit

Eine nie überwundene und desillusionierte Enttäuschung

Nach seiner Rettung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen hoffte Améry, dass der Judenhass weniger werden würde. Die bittere Erfahrung, die er jedoch immer nachdrücklicher machen musste, bestand in der Einsicht, dass der "Judenhass nur in Warteschleife ausharrte, dass er gleichwohl fortexistierte".

Und für ihn noch trostloser: dass es seit den 1960er-Jahren die Neue Linke war, der er sich politisch beheimatet fühlte, die den Antisemitismus schamlos auslebte.
Sein Ich wurde von seinem Jüdisch-Sein geleitet, und seine journalistische Arbeit davon geprägt. Er, ein ausgemachter Linker, hatte ein Gespür dafür, wann Anti-Israelismus, Antizionismus in abgrundtief feindseligen Antisemitismus umkippt. Denn Améry "weiß, dass er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigender Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigenfalls unter deren unverbindlichem Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann."

Améry hielt an Israel trotz politischer Differenzen zu den jeweiligen Regierungen unverbrüchlich fest: "In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel, eines Vergasten; in Deutschland und im übrigen Europa kann man es sich leisten, überhaupt nicht Sohn, Nicht-Enkel zu sein."
Für Améry stand fest, dass jeder Jude durch das Bestehen des Staates Israels eine neue Identität gewonnen hat, die mit dem Zerrbild nicht mehr korrespondierte.
"Für mich ist Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land, nur Sammelplatz von Überlebenden (…). Mit Israel solidarisch sein heißt für mich, den toten Kameraden die Treue bewahren."
Améry sagt, ganz egal, was Israel für eine Politik mache – mit der er oft nicht einverstanden war und die er kritisierte – es sei das einzige Land auf der Welt, in der der Jude sich das Eigenbild nicht von den Vorurteilen der Umwelt aufprägen lassen muss, der einzige Raum ohne den althergebrachten Antisemitismus. Objektiv gesehen, seien Israelis seit der Existenzgründung durch die feindliche arabische Umwelt bedroht, subjektiv fühlten sich die Juden in Israel mehrheitlich so frei und glücklich wie nie zuvor.

1973 vermerkte Jean Améry in seinem Essay "Juden, Linke – linke Juden": "Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin."

Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Irene Heidelberger-Leonard, die Professorin an der Université Libre de Bruxelles war und zu Alfred Andersch, Jurek Becker publizierte, dass jetzt "Améry wahrscheinlich gar in lähmende Ratlosigkeit verfallen wäre, ohne seine Union der Verzweiflung mit Israel zu lösen." Doch eine lähmende Ratlosigkeit nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2024 ist anzuzweifeln, vielmehr hätte er sich schreibend gegen diese Barbarei gewehrt. Denn Améry wusste, dass wenn der Staat Israel im Kriegsfall strategisch nicht das Feld behaupten würde, könnte eine noch hemmungslosere antijüdische und antiisraelische mörderische Hass-Welle Europa erfassen. Das würde die jüdische Gemeinschaft in der Diaspora zurückwerfen in die letzten Jahrhunderte, die von Pogromen und Verfolgung gekennzeichnet waren.

AVIVA-Tipp: Améry geht es um das geschichtliche, politische und "ethische Existential" des Jüdischseins, das nicht religiös halachisch definiert ist. Er versteht sein Jude-Sein als ein historisch-gesellschaftliches Fremdbestimmtes. Darin begreift er sich als ein politischer Jude, weil er vor allem die Gefahr des immer wieder emporschnellenden Antisemitismus im linkssozialistischen Spektrum durchschaut und klar benennt. Ein wichtiges Buch, dem ich eine große LeserInnenschaft wünsche.

Jean Améry
Der neue Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard

Klett-Cotta, Stuttgart 2024
Broschiert 128 Seiten, Ungekürzte Ausgabe
18 Euro
ISBN978-3-7681-9828-8
Mehr zum Buch und zum Autor unter: www.klett-cotta.de







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Nea Weissberg