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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.02.2023


Sarah Diehl: Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung
AVIVA-Redaktion

Sarah Diehl ist als Aktivistin und Autorin (Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich) eine der wichtigsten Stimmen zu weiblicher Selbstbestimmung im deutschsprachigen Raum. In ihrem neuen Debattenbuch "Die Freiheit, allein zu sein" zeigt sie, wie …




… der gesellschaftliche Blick auf unterschiedliche Lebensformen, aber auch politische und strukturelle Zwänge insbesondere Frauen in ihren Freiheiten einschränken und das Alleinsein verhindern.

Frauen hatten im Laufe der Geschichte kaum ein "Zimmer für sich allein". Auch heute gelten viele Freund*innen, viele Projekte und die Kleinfamilie als Garanten für ein glückliches Leben. Woher kommen diese Vorstellungen und warum hat sich bis heute kaum etwas daran geändert? Anhand von kulturhistorischen Betrachtungen, Interviews und der Erkundung verschiedener Lebensentwürfe entlarvt Sarah Diehl die Denkmuster, die diesen Annahmen zugrunde liegen. Dabei blickt sie ebenso auf die Bedeutung des Alleinseins innerhalb der Familie oder Partner*innenschaft, in der kreativen und politischen Arbeit, wie in der Natur oder auf Reisen. Sie ermutigt, eigene Bilder über das Alleinsein zu hinterfragen und die Einsamkeit immer wieder bewusst zu suchen. Denn nur so entziehen wir uns der Bewertung durch andere und erkennen unsere wahren Bedürfnisse.

Zentral ist für Sarah Diehl, dass Alleinsein nicht nur als elementarer Teil der Selbstfürsorge essentiell und absolut positiv ist, sondern dass es als wesentliche Triebfeder für Veränderung auch für das gesellschaftliche Miteinander Bedeutung hat. Insofern fordert sie auch die Gesellschaft auf, neue Antworten auf soziale Fragen rund um Familie und Fürsorge zu finden, aufgrund derer die Freiräume von Frauen immer noch immens eingeschränkt sind, damit die grundlegende Freiheitserfahrung allen selbstverständlicher zugänglich ist.

"Gerade bei Frauen gilt das Alleinsein immer noch als Makel.
Dabei brauchen wir es unbedingt, um uns äußeren Erwartungshaltungen
zu entziehen und uns mit uns selbst komplett zu fühlen."
Sarah Diehl

AVIVA-Tipp: Sarah Diehl räumt in ihrem Buch "Die Freiheit, allein zu sein" auf mit dem weitverbreiteten Bild, wonach Alleinsein gleich Einsamkeit bedeutet und dass Alleinleben nicht unweigerlich ein Zeichen von Versagen, Entsagen, oder Egoismus ist. Weitere wichtige Themen in ihrem Buch sind neben den verschiedensten Formen für ein selbstgewähltes oder unfreiwilliges Alleinsein auch die soziale Isolation von afroamerikanischen Frauen. Und sie stellt der tradierten Geschichtsschreibung die Lebensleistungen und Lebensentwürfe zahlreicher wegweisender Frauen entgegen. Ein auf mehreren Ebenen wichtiges Buch.

Die Autorin: Sarah Diehl, geboren 1978, hat Museologie, Afrikawissenschaften und Gender Studies studiert und lebt als Autorin und Aktivistin in Berlin. Sie arbeitet zum Thema "Reproduktive Rechte im internationalen Kontext", hat hierzu bereits zwei Anthologien herausgebracht und einen preisgekrönten Dokumentarfilm gedreht: Abortion Democracy: Poland/South Africa. 2014 gründete sie die NGO Ciocia Basia, die Frauen aus Polen hilft, sichere Schwangerschaftsabbrüche zu organisieren. 2012 erschien ihr Roman Eskimo Limon 9, 2014 die viel beachtete Streitschrift Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Seit 2020 gibt sie Seminare zum Thema "Will ich Kinder?" (www.diekinderfrage.de)

Sarah Diehl: Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung
Originalausgabe
400 Seiten │ Gebunden mit Schutzumschlag
€ 24,00 [D] │ € 24,70 [A]
ISBN: 978-3-7160-2800-1
Auch als E-Book.
Erschienen am 21. September 2022 im Arche Verlag
Mehr Infos zum Buch sowie Infos zu Veranstaltungsterminen unter: www.w1-media.de

Vier Fragen an die Autorin

Inwieweit ist Alleinsein politisch?

Die Gesellschaft braucht Menschen, die sich Rückzugsorte erlauben, um einengende Strukturen neu zu denken und progressive Impulse für eine emanzipierte und gleichberechtigte Welt zu entwickeln. Wir leben in einer Kultur, die uns eher zum Selbsthass als zur Selbstliebe erzieht: deshalb ist das "Bei sich sein" so wichtig. Umso dringlicher ist dies, weil die aktuellen Krisen, in denen wir stecken auch eine Krise der Vorstellungskraft einschließt. Eine, die entstand, weil weiße westlich geprägte Männer sich fast ausschließlich an dem Denken weißer westlich geprägter Männer orientierten, um unsere Welt zu gestalten, und andere Erfahrungswelten unsichtbar gemacht wurden. Diese Krise braucht dringend neue Perspektiven, die sich mit dem bisher verdrängten Wissen von marginalisierten Gruppen wie Frauen oder indigenen Bevölkerungen nun endlich Bahn brechen. Von Menschen, die unterprivilegiert sind, kann man am meisten über unsere Gesellschaft lernen.

Sie sagen, "um allein sein zu können, braucht es Vertrauen in die Welt". Inwiefern ist das Alleinsein oder Nicht-Alleinsein-Dürfen/-Können/-Wollen Ausdruck unseres Menschenbilds?
In unserer neoliberalen Konkurrenzgesellschaft wird uns Solidarität und Vertrauen leider ordentlich ausgetrieben, nicht zuletzt durch Vorstellungen eines angeblich natürlichen Egoismus. Wir gehen eher davon aus, dass Menschen feindselig sind, obwohl unsere menschliche Supermacht die Kooperation ist. Das Vertrauen, das ich mir und der Welt entgegenbringen kann, prägt fundamental meine Einstellung, anderen zu helfen und sich wiederum selbst auf andere zu verlassen, und somit auch meine Fähigkeit zum Alleinsein. Selbstwirksamkeit bedeutet nicht nur, dass ich alles allein schaffe, sondern, dass ich auch weiß, wann und wen ich um Hilfe bitte. Die Fähigkeit allein zu sein ist auch die Fähigkeit dem "Fremden" offen begegnen zu können. Im Alleinsein lernt man zu vertrauen, ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Unsicherheit herzustellen – das stellt auch neben den ungestörten Flow-Erlebnissen das Lustvolle am Alleinsein dar.

Weshalb sind die Erfahrungen des Alleinseins in der Öffentlichkeit für Frauen anders als für Männer?
Bei Männern wird das Alleinsein als Raum für Innovation und Abenteurertum zelebriert. Frauen hingegen werden von der Gesellschaft eingenommen, als seien sie ein öffentliches Gut, sie sollen mehr für die Bedürfnisse anderer da sein, als für ihre eigenen. Deshalb war es mir so wichtig, aktuelle Debatten über unbezahlte Fürsorgearbeit ins Buch einzubringen. Denn Frauen werden eigene Räume zum Alleinsein erstens viel weniger zugestanden und zweitens werden Frauen, die sich diese nehmen, extrem abgewertet – z.B. die "gefühlskalte kinderlose Singlefrau". Das Schreckgespenst der Frau, die traurig vereinsamen muss, wenn sie keinen Mann oder Kinder hat, wird bedient, um Frauen zurück in die Familien zu scheuchen, damit der Kleinfamilie das unbezahlte Personal nicht ausgeht.
Viele Frauen verstricken sich selbst in dieser Erzählung, dass ihr (Selbst-)Wert von anderen abhängt, weshalb es mir wichtig war, Frauen einen Handwerkskasten an Gedanken zur Verfügung zu stellen, um sich das Alleinsein anzueignen.
Vor allem, da die Statistik ein gegenteiliges Bild zeigt. Männer leiden viel mehr unter Einsamkeit als Frauen, da ihnen leider aufgrund von veralteten Männlichkeitskonzepten soziale und emotionale Kompetenzen abtrainiert wurden. Gleichzeitig lassen sich tatsächlich vermehrt ältere Frauen scheiden, um sich aus lieblosen Ehen zu befreien, weil sie nun, im Gegensatz zu ihren Müttern, bessere finanzielle Möglichkeiten dazu haben.
Eine weitere verquere Wahrnehmung, die dringend richtiggestellt werden muss, ist, Frauen zu erzählen, sie wären gefährdeter, wenn sie allein unterwegs seien, obwohl jede Statistik belegt, dass gerade die Familie der Ort ist, wo Frauen am meisten sexualisierte und körperliche Gewalt erfahren, eben von den Männern, die sie zu schützen vorgeben. Es ist eine der wirkungsmächtigsten Lügen des Patriarchats, die diese Gewalt in den Familien gegen Frauen erzeugt und sie damit gleichermaßen einschüchtert, sich nicht allein raus in die Welt zu wagen.

Denken Sie, Ihre Sozialisation hatte Einfluss darauf, wie Sie über das Thema denken – Sind Sie in einer sehr freiheitsliebenden Familie aufgewachsen?
Meine Eltern hatten normale Jobs, meine Mutter war lange Zeit Hausfrau, wir kommen aus einem Dorf, wo es wenige Vorbilder für Alternativen gab. Das wird typischerweise als sehr einengend gezeichnet, aber tatsächlich denke ich, dass mir das eine immense Freiheit gegeben hat. Meine Eltern waren ziemlich gelassen und haben mich nicht mit überzogenen perfektionistischen Erwartungshaltungen erstickt, ihnen war es egal, ob ich eine berufliche Karriere verfolge oder Hausfrau werde. Gerade dadurch haben sie mich mit einem Grundvertrauen und bedingungsloser Liebe ausgestattet, die mir erlaubten, mich raus in die Welt zu trauen und dort zu meinen Bedingungen zu wachsen.

Gleichzeitig habe ich als Teenager auf dem Dorf sehr unter Einsamkeit gelitten. Manchmal bin ich über die Landstraßen getrampt, nur um mal mit anderen zu reden. Manchmal wurde ich dabei von Männern mitgenommen, die ebenfalls aus Einsamkeit ziellos im Auto rumfuhren. Das Schreiben dieses Buches war auch eine Gelegenheit meinen Werdegang zu überdenken: von damals bis hin zu der Frau, die ich jetzt bin, die extrem gerne alleine unterwegs ist.




Quelle: Presseinformation Arche Verlag


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Beitrag vom 23.02.2023

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