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Beitrag vom 10.06.2020
Cristina Cattaneo - Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers
Helga Egetenmeier
Europas Außengrenzen sind die tödlichsten der Welt. Nach UN-Angaben starben von Januar 2014 bis Oktober 2019 beim Versuch, über das Meer nach Europa zu gelangen, 18.892 Flüchtlinge im Mittelmeer. Während bei Flugzeugabstürzen und Zugunglücken Spezialist*innen anreisen, um die Toten zu identifizieren und die Angehörigen zu informieren, treiben die toten Körper der Flüchtlinge nach dem Kentern der hoffnungslos überfüllten Flüchtlingsboote namenlos im Meer. Die Rechtsmedizinerin und Forensik-Professorin Cristina Cattaneo arbeitet gegen das Vergessen. In ihrem Buch ...
... beschreibt sie engagiert und einfühlsam gleichermaßen, wie sie den im Mittelmeer Ertrunkenen durch die Recherche nach ihrer Identität ihre Namen zurück geben will.
Unbekannte Tote - Die Identität als Wert an sich
Seit über zwanzig Jahren beschäftigen sich Cristina Cattaneo und ihr Team vom Institut Labanof (Laboratorio di Antropologia e Odontologia Forense, Mailand) mit der Untersuchung von Toten ohne Identität. "Leitstern bei dieser ständigen Arbeit mit Verbrechen, Opfern und fremden Leben ist uns seit je die Identität als Wert an sich – gerade wenn jemand sie verloren hat", beschreibt die Rechtsmedizinerin ihre Sicht und Motivation auf diese Tätigkeit. Für sie und ihr Team sei die Geschichte und Würde aller Verstorbenen wichtig, unabhängig von deren Herkunft.
Ihre Arbeit wurde lange Zeit dadurch erschwert, dass es keine gemeinsame Datenbank gab von vermisst gemeldeten Personen und Todesopfern ohne Identität. Erst 2012, nach zwölfjährigem Kampf, an dem Cattaneo maßgeblich beteiligt war, wurde in Italien ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Dadurch entstand die Regierungsstelle des außerordentlichen Kommissars für Vermisste (UCPS) und es erfolgte der Aufbau einer zentralen Datenbank (RISC). Diese sammelt alle Angaben der in Italien nicht identifizierten Toten (Post Mortem-Informationen) und vermissten Personen (Ante Mortem-Informationen) und ermöglicht den Abgleich zwischen ihnen.
Gattaneo kritisiert die fehlenden europäischen und nationalen Strukturen, wie sie in Italien anhand dieses Gesetzes entstehen konnten. Dadurch würde billigend in Kauf genommen, dass die Umsetzung des humanitären Rechts auf die Identifizierung der Todesopfer erschwert, oder gar verhindert wird.
Das Mittelmeer – ein anonymes Grab für Flüchtlinge
Seit fast zwanzig Jahren, schreibt Cattaneo, währt "dieser ´Ausnahmezustand´, dass so viele Menschen bei der Überquerung (nicht nur) des Mittelmeers sterben." So seien seit 2001 über 30.000 Migrant*innen auf der Flucht aus ihrem Heimatland ums Leben gekommen. Die Autorin sieht aber auch die Zunahme humanitären Engagements in Italien, Schiffbrüchige in Küstennähe zu retten und die Verstorbenen würdig zu bestatten. Doch können über die Hälfte der Toten nicht identifiziert werden.
Bereits vor den Schiffsunglücken von Lampedusa im Oktober 2013 tauschte sich die Rechtsmedizinerin jährlich mit Mitgliedern des Forensic Advisiory Board aus. Diese Gruppe innerhalb des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) setzt sich mit den Problemen auseinander, die die Identifizierung von Leichen erschweren. So erfuhr sie auch von den vermehrten Anfragen durch Angehörige beim IKRK, die Verwandte vermissten, die geplant hatten, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten.
Nach den beiden großen Schiffskatastrophen vor Lampedusa sei sie schockiert darüber gewesen, dass sich in der "forensischen Gemeinschaft" niemand bemühte, die Leichen zu identifizieren, wie dies beispielsweise beim Tsunami von Phuket der Fall gewesen war. Dort kamen, außer den Einheimischen, auch zahlreiche Tourist*innen ums Leben. Doch neben Rassismus und fehlendem Einfühlungsvermögen sieht sie auch in ökonomischen Aspekten und technischen Schwierigkeiten die Gründe, weshalb diese Katastrophen nicht sofort verantwortungsbewusst aufgearbeitet wurden.
Gegen das Vergessen: den Todesopfern ihre Namen wiedergeben
Gemeinsam mit ihrem Team vom Institut Labanof entschied sich Cattaneo, die Arbeit zur Identifizierung der Leichen bei den zwei Schiffsunglücken vor Lampedusa aufzunehmen. Sie hatten sich dazu die Einwilligung der Mailänder Università degli Studi, an die das Institut angeschlossen ist, eingeholt und wurden von der staatlichen Vermisstenbehörde UCPS unterstützt. Im Juni 2016 stimmten sie einer Anfrage der Vermisstenbehörde zu, unter deren Leitung die Opfer des Schiffsunglücks vom April 2015 zu untersuchen. Offiziell arbeiteten sie damit an der Identifizierung von 1.134 Toten, die bei diesen drei Katastrophen ertrunken waren.
Durch die Beschreibung auch von Details forensischer Untersuchungen erfährt die Leser*in, wie aufwendig die Suche nach Erkennungsmerkmalen ist. Da die meisten Opfer kaum Papiere mit sich trugen, werden die Leichen fotografiert, gescant, seziert und die am Körper getragenen Fundstücke katalogisiert. Wie auch bei der nationalen Datenbank RISC, können diese Post Mortem-Daten mit den Angaben von Suchenden (Ante Mortem-Daten), abgeglichen werden, um Vermisste zu finden. So ist es ihr mit ihrem Team innnerhalb von fünf Jahren gelungen, die Identität von 37 Menschen zu ermitteln, da für diese die Daten übereinstimmten.
Das Buch, zeigt auf acht Fotoseiten die Fundsachen der Toten. Unter einem mit "PM 390 525" beschrifteten, durchsichtigen Plastikbeutel ist notiert, "Jugendlicher, männlich". Beschrieben wird, dass "das Opfer einen Schlüssel und zwei Kreuze" in der Hosentasche trug, wie sie von koptischen Christen in Eritrea oder Äthiopien getragen werden. Auch hatte "dieser Jugendliche wasserfest verpackte Säckchen Erde bei sich – ein Stück Heimat", ein Gegenstand, den die Autorin bei vielen Ertrunkenen fand.
Cattaneo nimmt die Leser*innen sensibel an die Hand, um mit ihnen ihre Emotionen bei ihrer Aufnahme der Erkennungsmerkmale der Toten zu teilen. Sie beschreibt, wie es sie immer wieder überraschte, dass sie ein T-Shirt, eine Jacke, oder ein kleines Armband, auch einer ihrer Angehörigen zuordnen könnte. Oft entdeckte sie im Hemd eingenähte Erde. Durch diesen Fund sähe sie sich besonders in ihrer Arbeit bestätigt, schreibt Cattaneo. Viele Flüchtende nähmen durch diese Prise Erde eine Erinnerung an ihre Familie mit, was zeige, wie nah sie sich ihren Angehörigen fühlten, die auch deshalb auch erfahren müssten, was mit ihren vermissten Angehörigen passiert ist.
AVIVA-Tipp: Ein Buch voller Zuneigung für die unbekannten Migrant*innen, die im Mittelmeer ertrinken mussten. Cristina Cattaneo macht darin deutlich, dass es ein Gebot der Menschlichkeit ist, diesen Todesopfern und ihren Angehörigen ihre Namen und ihre Lebensgeschichte zurück zu geben. Und sie zeigt damit, wie wertvoll jedes einzelne Leben ist - so ist das Buch auch ein Appell für eine menschlichere Politik und für die zivile Seenotrettung.
Zur Autorin: Cristina Cattaneo, geboren 1964 in Casale Monferrato, Piemont, studierte biomedizinische Wissenschaften in Montreal und Sheffield und spezialisierte sich anschließend in Mailand in forensischer Medizin. Heute ist sie ordentliche Professorin für Rechtsmedizin und Anthropologie an der Universitá degli Studi in Mailand, wo sie auch das angeschlossene Labor Labanof (Laboratorio die Antropologia e Odontologia Forense) leitet. In Zusammenarbeit mit dem italienischen Innenministerium war sie aktiv beim Aufbau einer nationalen Datenbank für nicht identifizierte Todesopfer beteiligt. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der staatlichen Vermisstenbehörde in Italien an der Identifizierung der Todesopfer der beiden großen Schiffsunglücke vor Lampedusa. Als Gutachterin wird sie in Italien und auch im europäischen Ausland für Gerichtsverfahren beigezogen. Sie ist Präsidentin der "Forensic Anthropology Society of Europe" (FASE), Mitglied der Schweizer Organisation "Disaster Victim Identification" (DVI), Co-Herausgeberin der Fachzeitschrift "Forensic Science International" sowie Direktorin der "Collezione Antropologica Labanof", einer der größten anthropologischen Museumssammlungen in Europa.
Laut Rotpunktverlag soll ein Dokumentarfilm über Cristina Cattaneo Ende 2020 ins Kino kommen. (Verlagsinfo)
Zur Übersetzerin: Barbara Sauser studierte in Freiburg i. Ue. (Schweiz) und Kasan Slawistik und Musikwissenschaft und arbeitete als Lektorin und Pressebeauftragte in Verlagen. Seit 2009 lebt sie als freiberufliche Lektorin und Übersetzerin aus dem Italienischen, Französischen, Polnischen und Russischen in Bellinzona (Schweiz).
www.barbarasauser.ch
Cristina Cattaneo
Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers
Originaltitel: Naufraghi senza volto. Dare un nome alle vittime del Mediterraneo
Ãœbersetzerin: Barbara Sauser
Vorwort von Sacha Batthyany
Fotos: Mattia Balsamini
Rotpunktverlag, erschienen: März 2020
Hardcover, gebunden, 208 Seiten
ISBN-13: 978-3-85869-866-7
24,00 Euro
Mehr zum Buch: www.rotpunktverlag.ch
Weitere Infos unter:
www.drk-suchdienst.de
Das Deutsche Rote Kreuz hilft Menschen, die sich in Deutschland befinden und ihre Angehörigen vermissen. Dazu schreiben sie auf ihrer Webseite, dass Menschen auf ihrem Weg über die aktuellen Migrationsrouten nach Europa oft unter dramatischen Umständen von ihren Familien getrennt werden. Um diese Vermisstenschicksale aufzuklären, arbeitet der DRK-Suchdienst im Rahmen seines internationalen Suchdienst-Netzwerkes mit Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften weltweit sowie mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zusammen.
www.familylinks.icrc.org
Der Suchdienst des Roten Kreuzes/Roten Halbmonds arbeitet weltweit, um Menschen zu finden und sie wieder mit ihren Familien in Kontakt zu bringen. Das Netzwerk besteht aus dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und den Suchdiensten der 192 Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften.
www.proasyl.de
PRO ASYL
www.uno-fluechtlingshilfe.de
Die UNO-Flüchtlingshilfe beschreibt auf ihrer Webseite, wieviele Menschen nach Europa fliehen, wieviele dabei den Tod finden und was die Menschen dazu bewegt, diese lebensgefährliche Flucht zu wagen.
www.israaid.org
Founded in 2001, IsraAID is an Israel-based international non-governmental organization. Since its inception, IsraAID has worked in emergency and long-term development settings in 50+ countries.
www.missingmigrants.iom.int
Website of the Missing Migrants Project by International Organization for Migration (IOM). It tracks incidents involving migrants, including refugees and asylum-seekers, who have died or gone missing in the process of migration towards an international destination.
www.daserste.de
Bericht in der ARD-Sendung "titel thesen temperamente" vom 19.04.20 über Christina Cattaneo, ihre Arbeit und ihr Buch.
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