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Beitrag vom 31.01.2020
Rebecca Solnit – Nonstop Metropolis. Atlas in Worten
Ahima Beerlage, Sharon Adler
In ihrem letzten Buch "Wanderlust" brachte uns die jüdische-amerikanische Kulturwissenschaftlerin, Journalistin, Essayistin und Schriftstellerin die Geschichte und soziale Bedeutung des Wanderns nahe. Seit "Wenn Männer mir die Welt erklären" haben wir ihr den Begriff des "Mansplaining" zu verdanken. In der Anthologie "Nonstop Metropolis" ergründet sie gemeinsam mit den Autor_innen Lisa Conrad, Aaron Shurin, Adriana Camarena, Guillermo Gomez-Pena, Paul La Farge, Joshua Jelly-Schapiro, Garnette Cadogan, Valeria Luiselli, Joe Boyd, Will Butler, Mirissa Neff, Teju Cole, Margo Jefferson, Barry Lopez, Sheely Avni, Marshall Berman und Suketu Mehta drei Sehnsuchtsorte Nordamerikas und deren wechselvolle Geschichte.
"Alle Städte existieren in einer Tagversion, die sich um Geschäfte, Produktivität und Ordnung dreht, wovon einiges angenehm und notwendig ist – Arbeit, die das Wasser fließen und die Züge fahren lässt -, anderes hingegen nicht, wie die Kräfte, die alles mit einem Preisschild versehen und alles und jeden ohne Geld verdrängen, oder die Behörden, die jede Form von Wildheit und Freiheit als zu bekämpfende Unordnung ansehen. Daneben haben Städte auch ein Traumleben, ein Nachtleben und ein Liebesleben, die glatte Gegenteile von all dem darstellen." schreibt Rebecca Solnit.
Wer die USA bereisen will, hat mindestens eine dieser drei Metropolen auf dem Reiseplan: San Francisco, New Orleans oder New York City. Ob durch alternativen Cityguide mit "Geheimtipps" oder übliche Tourist_innenführer - für die Reisenden setzen sich diese Städte aus den romantisch aufgeladenen Bildern zusammen, die die Tourismusindustrie in den Köpfen der Gäste entstehen lassen will. Rebecca Solnit und ihre Co-Autor_innen, darunter Aktivist_innen, Soziolog_innen, Linguist_innen, Szene-Insider und Künstler_innen, haben sich in dem Atlas in Worten, so der Untertitel, einerseits sehr persönlich und andererseits historisch mit diesen berühmten Metropolen auseinandergesetzt.
San Francisco – Zwischen Drag und Drogen
Die bildende Künstlerin und Bibliothekarin Lisa Conrad erinnert in ihrem Artikel Die Namen vor den Namen an die Gemeinschaften, die vor der Besiedelung der Bay Area durch Weiße und vor der Gründung der Stadt San Francisco in diesem Gebiet lebten. "Anders als auf dem restlichen Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten, wo große Zusammenschlüsse von Individuen, als Stämme oder Scharen von Oberhäuptern geführt, die Norm waren, lebten in Kalifornien kleine Gemeinschaften von etwa fünfzig bis zu vierhundert Mitgliedern mit einer regionalen Identität, und sie bewirtschafteten jeweils klar definierte Gebiete."
Die Geschichte dieser ersten Bewohner_innen verschwindet häufig aus den Geschichtsbüchern. Der Schriftsteller, Essayist und emeritierte Professor für kreatives Schreiben an der Universität von San Francisco Aaron Shurin widmet sich in seinem Artikel Monarchfalter und Queens den Zeiten, in denen die schwule Kultur ihre Hochzeit hatte. "Zumindest zu meiner Zeit suchte jeder schwule Mann nach einem Drag-Namen, der sich als (witziger) Schlüssel zu einer geheimen Identität eignete. Der Name glich einer Perücke, mit der man sein öffentliches Gesicht umgestaltete, eine Sprach-perücke! Es konnte definieren und undefinieren, besaß die Fähigkeit des Drag, gleichzeitig zu maskieren und zu enthüllen Es war eine verbale Verkörperung, ja, aber nicht nur das: es war eine Personwerdung." Er erinnert an die lesbisch-schwulen Gemeinschaften, an die Verbundenheit aller queeren Existenzen. In seiner Auflistung queerer Orte fällt schmerzlich auf, dass diese bunte Vielfalt in den 80er und 90er Jahren endete – geschuldet der AIDS-Krise und der Gentrifizierung der Stadt, die immer stärker zum Wohnort der Fachleute aus dem Silicon Valley wurde.
Rebecca Solnit erinnert sich in Die Augen der Götter an die berühmten Bilder, die in der Welt Beachtung fanden und die Wahrnehmung von San Francisco geprägt haben – sowohl die Fotografien von Eadweard Muybridge als auch die bewegten Bilder, die Alfred Hitchcock in Vertico schuf. Die Geografie des Unsichtbaren beleuchtet Adriana Camarena, gebürtige Mexikanerin und seit 2008 im Mission District in San Francisco. Sie dokumentiert das Leben der Einwandernden aus Südamerika in ihren Wohnvierteln, die von Drogenhandel, Prostitution und Gangaktivitäten dominiert werden und die größtenteils versuchen, sich als Tagelöhner_innen und Hausangestellte durchzuschlagen. Wie vielfältig das Leben in San Francisco ist, beschreibt Rebecca Solnit in Wo bin ich wer? Auf einem imaginären Spaziergang durch die Stadt und ihre Viertel wandelt sie sich durch Erinnerungen und nimmt unterschiedliche Identitäten an, die durch die Umgebung geprägt wurden und werden – als Weiße, als Frau, als Kind, als Jugendliche.
Auch Guillermo Gómez-Pena, aus Mexico stammender Performance-Künstler und Aktivist, spaziert durch sein San Francisco und es wird deutlich, wie sehr die Wahrnehmung durch die Herkunft und individuelle Geschichte geprägt ist. Paul La Farges, Schriftsteller aus New York, ist bei seinem Rundgang durch Die Stadt der vierzehn Buckel – San Francisco Phrenologisch inspiriert von einer längst überholten Theorie, nach der sich der Geist eines Menschen an der Topografie der Buckel auf der Schädeldecke bemessen lässt. Die Stadt der zahlreichen Hügel entwickelt ihren eigenen Charakter, so der Autor. Jede Erhebung beherbergt andere Bewohner_innengruppen, die zum Gesamtbild und zum Denken der Stadt beitragen.
New Orleans – Von Plantagenbesitzern und Bananenbaronen
New Orleans ist für heutige Tourist_innen vor allem ein Ort mit Musik und Local Food. Doch was den Reisenden als Folklore geboten wird, ist nur Zuckerguss, unter dem eine harte Geschichte aus Monopolwirtschaft und Sklaverei steckt. Von Beginn an, so der Geograph und New Orleans-Experte Richard Campanella in seinem Artikel Wie es zu New Orleans gekommen ist, versuchten die weißen Eroberer die Wildheit und sich ständig verändernde Landschaft des Mississippi-Deltas zu bändigen. "Die Geschichte der Stadtentwicklung von New Orleans ist im Kern die Geschichte davon, wie man widerspenstige Kurven und Rundungen mit ordentlichen rechten Winkeln überzieht." Mit den weißen Eroberern kamen auch Sklaverei und Ausbeutung in die Stadt. "Die geschmackliche Vorliebe für das Süße im Europa des 18. Jahrhunderts wirkte sich auf New Orleans heimtückisch aus", stellt die Professorin für afrikanische und afrikanisch-amerikanische Geschichte Shirley Thompson in ihrem Artikel Süsse ist nie leicht fest, denn während die Zuckerbarone reich wurden, litten die Sklav_innen in den Plantagen. Die Nachkommen dieser Sklav_innen haben die Musik ihrer Vorfahren weiterentwickelt und den einzigartigen Soundtrack der Stadt geschaffen, deren jüngste Variante ´Project Music´ heißt, eine "stotternde Hiphop-Variante (…), die eine Hommage ist an die Viertel, Blocks und Sozialbauten der Stadt vertont.
Eine Stadt, die so sehr über Monopole regiert wird und in der die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinanderklafft, ist anfällig für Korruption und Lüge. Wie lang die Lügen über die Sklaverei, die Lebensverhältnisse und die Vernachlässigung der armen Viertel zurückreichen, beschreibt Rebecca Solnit in der Vermessung lügnerischer Gefilde Dass diese Lügen und die Ausbeutung durch Monopolisten die Stadt und die ganze Küstenregion immer wieder bedrohen, rekonstruiert die Aktivistin, Energieanalystin und Journalistin Antonia Juhasz in Als das Meer in Brand gesetzt wurde, einer Chronik der Ereignisse rund um die Exxon-Valdez-Ölpest, die in wenigen Tagen den Fischer_innen und kleinen Restaurantbesitzer_innen in New Oleans die Existenzgrundlage nahm. Und bis heute haben die Ölkonzerne nicht wirklich viel daraus gelernt, denn der rücksichtlose Ausbau der Rohölförderung vor dem Delta des Mississippi geht ungebremst weiter. Ein weiteres großes Kapitel von Monopolwirtschaft auf Kosten der Bevölkerung enthüllt der Autor, Journalist und Geograph Joshua Jelly-Schapiro in Obstschicksale am Tor zu den Tropen Der Hafen der Stadt war der Hauptumschlagplatz für Bananen aus ganz Südamerika, als Bananen weltweit zur begehrtesten Frucht wurden. Während die Monopolgesellschaften durch die Bananen-Industrie unfassbar reich wurden, schufteten die Arbeitenden für Hungerlöhne im Hafen. Gewinnmaximierung ging und geht in New Orleans immer auf Kosten der Ärmsten der Stadt – bis in die Moderne. Beim Hurrikan Katrina waren es die Armenviertel, die den gewalttätigen Wassermassen schutzlos ausgeliefert waren.
New York – Hauptstadt des Kapitalismus
Die käufliche Hauptstadt betitelt Joshua Jelly-Schapiro seine Betrachtungen über New York. Der Kapitalismus scheint schon in der DNA der Stadt zu liegen. "Die Suche nach den Gründen für den Aufstieg New Yorks führt unweigerlich zurück zu jenem Maitag des Jahres 1624, als Peter Minuit als Vertreter der Niederländischen Westindien-Kompanie die Indianer überredete, ihm für vierundzwanzig Dollar Manhattan zu verkaufen." Ob niederländische Kolonie, ob britische Herrschaft oder Unabhängigkeitskrieg – wer der Spur des Geldes folgt, kann New York verstehen, so der Autor. Doch es gibt auch eine immaterielle Welt hinter den glitzernden Fassaden, findet Rebecca Solnit in Die Austern im Kirchturm. Es ist der Individualismus der Bewohner_innen, der Sinn für den freien Geist, der diese immaterielle Welt der Stadt ausmacht. New York war schon immer ein Ort, an dem der Kampf um Freiheit im Vordergrund stand., findet Rebecca Solnit und setzt damit allen Freidenker_innen und Träumer_innen der Stadt ein Denkmal.
In einer Reihe von Essays spüren einige Autor_innen ihrem ganz persönlichen Soundtrack der vielbesungenen Stadt nach, in die jede einwandernde Gruppe immer auch neue Musik mitbringt. Doch nicht nur für Musikliebhaber_innen und Musizierende ist New York ein Sehnsuchtsort. Auch andere Künste ziehen Menschen in diese Stadt. Die jüdische Filmjournalistin und Kulturwissenschaftlerin Sheerly Avni erzählt in Mein jiddischer Papa die Geschichte ihres Vaters, der als Kibbuznik aus Israel nach New York kam, um auf einer Bildungsreise einerseits den New Yorker_innen israelische Kultur zu präsentieren, andererseits Unterstützende für kulturelle Projekte in Israel anzuwerben. Der Vater unterlag dem Charme der Stadt und machte aus seinem Bestreben, jüdische Kultur in die Stadt zu bringen, ein Lebenswerk, indem er das ´Jewish Repertory Theatre´ gründete und über viele Jahrzehnte am Leben hielt. Damit schenkte er der Stadt, in der laut einer Studie von 2011 jeder sechste Haushalt jüdisch ist, einen Ort, der sich "an der Geschichte der Juden orientierte, die Jahrzehnte vor ihm über Ellis Island ins Land gekommen waren."
AVIVA-Tipp: Atlanten liefern in der Regel einmalige Bilder einer Region. Mit dem Wort-Atlas zu den drei berühmten amerikanischen Metropolen geben uns Rebecca Solnit und ihre Co-Autor_innen einen tieferen subjektiven Einblick in die Geschichte und Mentalität dieser Städte und ihrer Bevölkerung. Wer diese Metropolen bereisen will, sollte nicht versäumen, dieses Buch zuvor zu lesen. Leider ist der deutschen Ausgabe das Kartenmaterial der amerikanischen Originalausgaben nicht beigefügt und auch Kurzbiografien der Co-Autor_innen fehlen. Nur aus dem Umschlagtext des Buches erfahren wir, dass es sich dabei um Künstler, Soziologen, Aktivisten und Linguisten handelt. Ein weiterer Wermutstropfen ist gerade bei einer so wortgewandten feministischen Essayistin die Übersetzung, die Frauen im Text häufig ungesehen lässt und auch Native Americans noch als ´Indianer´ bezeichnet.
Zur Autorin: Rebecca Solnit Jahrgang 1961, jüdisch-amerikanische Autorin, Journalistin, Essayistin und Kulturhistorikerin ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie setzt sich für Feminismus, Umweltschutz und Menschenrechte ein. Sie ist Herausgeberin des Magazins "Harper´s" und schreibt regelmäßig Kolumnen für den "The Guardian". Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Ins Deutsche übersetzt wurden von ihr bisher "Wenn Männer mir die Welt erklären" (2017), "Die Mutter aller Fragen" (2017), "Wanderlust" (2019) und "Die Dinge beim Namen nennen" (2019).
Mehr zur Autorin: rebeccasolnit.net und www.theguardian.com
Rebecca Solnit
Nonstop Metropolis. Ein Atlas in Worten
Originaltitel der ursprünglichen Titel, aus denen die Essays entliehen sind: Infinite City. A San Francisco Atlas (2010), Unfathomable City. A New Orleans Atlas (2013) und Nonstop Metropolis. A New York City Atlas (2016), erschienen bei University of California Press, Berkeley und Los Angeles, California.
Übersetzt von Bettina Münch, Kathrin Razum und Kirsten Riesselmann
Verlag Hoffmann und Campe, erschienen 2019
ISBN: 978-3455004144
Preis: 24,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.hoffmann-und-campe.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Rebecca Solnit – Wanderlust
Bisher war die jüdisch-amerikanische Autorin, Journalistin, Essayistin und Kulturhistorikerin in Deutschland vor Allem bekannt für ihre feministischen Essays und ihre scharfsichtigen Beobachtungen zur politischen und gesellschaftlichen Situation in den USA. In ihrem neuen Buch widmet sie sich mit allen Sinnen der Lust am Gehen. (2019)
Rebecca Solnit – Die Dinge beim Namen nennen. Call Them by Their True Names. American Crisis (and Essays)
Die jüdisch-amerikanische Kulturhistorikerin, Journalistin, Essayistin und Autorin ("Wenn Männer mir die Welt erklären"), der wir den Begriff des "Mansplaining" zu verdanken haben, nimmt sich in ihren aktuellen furchtlosen und scharfsichtigen Essays der USA unter Trump an. (2019)
Rebecca Solnit – Wenn Männer mir die Welt erklären
Nach der einflussreichen feministischen Kritik des berühmten Essays "Men Explain Things To Me" liefert die preisgekrönte Schriftstellerin im neuen Sammelband sechs weitere provokative Kommentare, erschienen im August 2015 bei Hoffmann und Campe. (2015)
Lauren Elkin – Flâneuse. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London
Fast hätte sie eine Arbeit über Prostituierte geschrieben, denn die Essayistin und Autorin Lauren Elkin fand nichts anderes über die Stadtwanderin. Emsige Recherche aber zeigte: es gibt und gab sie, die Flâneuse, die Frau, die sich die Stadt erläuft und sie sich so mit den Füßen einprägt. George Sand, Virginia Woolf, Agnès Varda und viele andere gingen ihr voraus. (2019)
Karin Sagner - Frauen auf eigenen Füßen. Spazieren, flanieren, wandern
Die Münchener Kunsthistorikerin arrangiert Gemälde aus drei Jahrhunderten, Tagebucheinträge, Zitate und informative Texte zu einem unterhaltsamen Bildband, der von der Eroberung von Gipfeln und Promenaden durch die Frauen erzählt. (2017)