Martha Nussbaum - Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 03.03.2019


Martha Nussbaum - Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise
Bärbel Gerdes

Nachdem sich die Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago Martha Nussbaum dem Zorn und der Vergebung angenähert hat, wendet sie sich in ihrem neuen Werk der Angst und ihrer Instrumentalisierung zu. Scharfsichtig analysiert sie die Spaltung und Polarisierung in den Vereinigten Staaten. Ihre Einsichten lassen sich bequem auf Deutschland übertragen.




Martha Nussbaum ist eine Philosophin der Gefühle. In ihren Werken wendet sie sich immer wieder den Emotionen und ihren Konsequenzen zu. In Zorn und Vergebung – Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit untersucht sie Gefühle, die in heutigen Gesellschaften Hochkonjunktur haben. Der Wutbürger ist ein Begriff, der die Politik der vergangenen Jahre prägte.

Nussbaum untersucht "Zorn" in drei Bereichen: in vertrauten Beziehungen, im sogenannten mittleren und im politischen Bereich.

Zorn sei geprägt von drei Motivatoren, schreibt sie. Der erste sei der Weg der Heimzahlung, bei dem es um Rache und Vergeltung ginge. Dabei herrsche das magische Denken vor, ein Racheakt mache das Unrecht ungeschehen.
Der Weg des Status betrifft Verletzungen, bei denen es um eine Erniedrigung oder Herabsetzung einer Person geht. Auch hier bestünde oft die Meinung, dass eine Herabsetzung der Täterin oder des Täters eine Heraufsetzung des eigenen relativen Status zur Folge hätte.
Den einzigen Nutzen des Zorn sieht Nussbaum im Zorn des Übergangs. Nur dieser sei einer, der zukunftsgewandt sei. Diesen bringt sie auf die Formel Wie empörend. Dagegen sollte etwas unternommen werden.

Ein weiteres Thema des Buches ist die "Vergebung", die Nussbaum einen prominenten Ersatzkandidaten des Zorn nennt. Denn auch Vergebung kann dazu führen, dass eine Person in ihrem Status zurückgesetzt wird und sie fast als Abrechnung daher kommt. Die zum Judentum konvertierte Autorin verweist auf die christliche Religion. Wenn genug geweint, gefleht und um Entschuldigung gebeten wird – wozu im Regelfall eine nicht unbeträchtliche Selbsterniedrigung gehört -, kann Gott beschließen, auf die Strafe für manche oder für alle Verfehlungen zu verzichten und den reuigen Menschen des himmlischen Segens wieder teilhaftig werden zu lassen. Die Erniedrigung ist die Vorbedingung der Erhöhung.

Die griechischen Furien waren schreckliche Rache- und Zornesgestalten. Bei der Einrichtung ihrer Rechtsinstitutionen sperrt Athene sie nicht in einen Käfig, sondern überzeugt sie davon, dass sie sich ihrem Unternehmen anschließen. Ihnen wird ein Ehrenplatz zugesichert, wenn sie sich nicht länger von Rache und Vergeltung leiten ließen, sondern sie der Stimme der Überzeugung zuhörten.
Die Gerichtsbarkeit ist erschaffen, und Nussbaum plädiert dafür, diese zu nutzen, um den eigenen Zorn quasi auszulagern. Er ist nicht mehr nötig, weil Institutionen sich darum kümmern, Recht herzustellen.
Martha Nussbaum sieht im politischen Bereich Nelson Mandela, Martin Luther King und Mahatma Gandhi als Vorbilder. Sie hätten zwar nicht alle auf Zorn verzichtet und manche auch nicht auf Gewalt, sie hätten aber den Zorn losgelöst von der Rache, wodurch eine Vorwärtsbewegung möglich geworden sei.

In ihrem neuen Buch nun untersucht die Philosophin, die 2016 den Kyoto-Preis erhielt – so etwas wie den Nobelpreis für Philosophie – das Gefühl der Angst. Sie habe die Angst als Quelle des Zorns in Zorn und Vergebung unterschätzt, schreibt sie. Angst ist ein sehr altes und ursprüngliches Gefühl, das entsprechend leicht zu aktivieren sei.

In einem Exkurs beschreibt Nussbaum ihre ersten Begegnungen mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus. Die 1947 in New York City geborene Martha Craven wuchs mit einem Vater auf, der einen tiefsitzenden Rassismus und Antisemitismus hatte. Ihr Vater verabscheute AfroamerikanerInnen und JüdInnen. Erst ein Auslandsaufenthalt ließ Zweifel an dem Credo ihres Vaters aufkommen. An der Universität begegneten ihr die Menschen, vor denen sie gewarnt worden war.

Nussbaum heiratete schließlich einen jüdischen Mann und konvertierte, und obgleich sie schon lange geschieden ist, habe sie ihren jüdischen Namen und ihre jüdische Religion beibehalten. "Was mich am Judentum anzog und immer noch anzieht, ist die vorrangige Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit", schreibt sie.
Eine Form der Diskriminierung, der sie nicht entgehen konnte, war die Diskriminierung als Frau. Diese spielte in ihrer frühen Karriere eine große Rolle.

Martha Nussbaum arbeitet heraus, wie sehr all diese Feindbilder gegen Frauen, AfroamerikanerInnen, Lesben und Schwule und Menschen mit unterschiedlichen Religionen ihren Ursprung in dem Gefühl der Angst haben.

Viele AmerikanerInnen fühlten sich heute machtlos, deren Grundlage reale Problemen seien. Stagnation des Einkommens, ungerechter Zugang zu Bildung und teure Gesundheitskosten mündeten in einem Gefühl der Panik und Ohnmacht, das in Schuldzuweisungen gegen EinwanderInnen, ethnische und religiöse Minderheiten und Frauen umgewandelt werden würde. Die Rechte würde genau dies instrumentalisieren.
Doch die Linke stünde dem nicht nach. Indem sie nach Trumps Wahlsieg reagierten, als ob das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe und die Demokratie am Rande des Zusammenbruchs stünde, würden sie dieselbe Angstkulisse aufbauen.

Nussbaum ruft zu einer nüchternen Analyse auf, vor allem aber auch zu gegenseitigem Zuhören.
Denn wenn die Linke Angst schürt, sucht auch sie nach einem Sündenbock.
Ungewissheit, Unwissenheit und Angst vor der Zukunft trieben die Menschen den Angstmachern in die Arme. Die sozialen Medien fördern dies durch die ungeprüfte Übernahme von Informationen und ihre schnelle Verbreitung.

In einem eigenen Kapitel widmet sich Nussbaum dem giftigen Gebräu Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Interessanterweise differenziert sie diese beiden Begriffe. Sexismus bestünde aus einer Reihe von Überzeugungen, denen der Glaube an der Unterlegenheit der Frau zugrunde läge. Frauenfeindlichkeit jedoch bezöge sich mehr auf das Handeln: sie sei ein entschlossenes Durchsetzen geschlechtsspezifischer Privilegien, das manchmal durch Hass motiviert sein kann, häufiger aber auch mit wohlmeinenden paternalistischen Gefühlen verbunden sei.

Trumps Sexismus ließe sich schwer belegen, meint Nussbaum, da sich seine Bemerkungen über weibliche Inkompetenz vor allem auf Hillary Clinton bezögen. Häufiger lege er Frauen gegenüber eine demütigende Herabsetzung an den Tag und dies geschähe mit Hohn, Beleidigungen oder der Äußerung von Ekel.

Ärgerlich akademisch klingt es, wenn Nussbaum herauszuarbeiten versucht, ob Trump denn nun ein Sexist oder ein Frauenfeind sei. "Er versucht lediglich, diesen Frauen [Frauen, die in ehemals rein männlichen Berufen erfolgreich sind] das Leben in diesen Berufen durch öffentliche Demütigungen zu erschweren. Also passt das Etikett des Frauenfeindes besser zu ihm als das des Sexisten."

Martha Nussbaum setzt der aktuellen Situation Hoffnung entgegen. Zwar ist sie sich sicher, dass kein Gefühl die Demokratie so gefährde wie die Angst und sie sehe auch den Abbau sozialer Gerechtigkeit in vielen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft, doch nur Hoffnung würde den Blick erweitern. Es sei wichtig, den Täter von der Tat zu trennen, schreibt sie. Zehn zentrale Fähigkeiten oder Möglichkeiten arbeitet sie heraus, über die alle BürgerInnen verfügen sollten, darunter körperliche Integrität und Gesundheit, Zugehörigkeit, praktische Vernunft, Emotionen und Kontrolle über die eigene Umwelt,
Ich meine, es wäre eine gute Sache, wenn alle Amerikaner – nicht nur Amtsträger, sondern auch Wähler – selbstkritisch für sich herausfinden würden, was sie tatsächlich über bestimmte Dinge denken.

AVIVA-Tipp: Martha Nussbaums Bücher laden zu leidenschaftlicher Diskussion und Kontroverse ein und erzielen damit genau das, was sich die Autorin wünscht: miteinander ins Gespräch kommen, sich gegenseitig zuhören und nach gemeinsamen Lösungen forschen. Ihre brillanten Analysen bringen Klarheit und Ordnung in eine Welt der Täuschungen, der Schuldzuweisungen und der Instrumentalisierung von Ängsten.

Zur Autorin: Martha Nussbaum wurde 1947 in New York City geboren. Sie studierte klassische Philologie und Theaterwissenschaften an der New York University und promovierte 1975 im Fach Philosophie. Ihr besonderes Interesse gilt der politischen Philosophie, dem Feminismus und der Ethik. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten, die mit Preisen gewürdigt wurden und gilt als eine der einflussreichsten Philosophinnen der Vereinigten Staaten. Ihre wichtigsten Werke sind The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosoph (1986), Sex and Social Justice (1999, nur zum Teil in Deutsch als Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge (2002) und From Disgust to Humanity (2010). 2014 auf Deutsch erschienen ist Die Grenzen der Gerechtigkeit - Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit und 2016 Politische Emotionen - Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist ( Political Emotions: Why Love Matters for Justice (Beide im Suhrkamp Verlag)
Nussbaum erhielt zahlreiche Preise, darunter die Centennial Medal of the Graduate School of Arts and Sciences der Harvard University (2010), den Kyoto-Preis (2016) und den Berggruen Prize (2018). Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago.
Mehr Infos: philosophy.uchicago.edu

Zum Übersetzer: Dr. Manfred Weltecke ist Philosophieprofessor am Trinity College Dublin. Er studierte Philosophie und Biologie in Bonn und übersetzt vom Englischen ins Deutsche, darunter Michael O´Shea Das Gehirn (2012), Anthony Kenny: Geschichte der Abendländischen Philosophie (2015) und Martha Nussbaum: Älter werden: Gespräche über die Liebe, das Leben und das Loslassen (2018) und Martha Nussbaum: Königreich der Angst (2019).



Martha Nussbaum
Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit

Orginaltitel: Anger and Forgiveness
Aus dem Englischen von Axel Walter
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, erschienen 2017
408 S.
ISBN 978-3-534-26884-9
39,95 €
Mehr zum Buch: www.wbg-wissenverbindet.de



Martha Nussbaum
Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise

Orginaltitel: The Monarchy of Fear
Aus dem Englischen von Manfred Weltecke
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, erschienen im Januar 2019
299 S.
ISBN 978-3-8062-3875-4
28,00 €
Mehr zum Buch: www.wbg-wissenverbindet.de

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Martha C. Nussbaum - Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit
Gerechtigkeit ist ein Anliegen, welchem in der postmodernen Gesellschaft wichtige Priorität zugestanden wird, doch wird dies in der Ausführung oft gegen andere Interessen wie den hohen Kosten für eine lückenlose Inklusion aller behinderten Menschen abgewogen. (2011)

Susan Neiman - Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten
Ein Appell an die Vernunft. Die Philosophin, pragmatische Idealistin, Feministin und Direktorin des Einsteinforums in Potsdam, Susan Neiman, ruft gut ein Jahr nach der Amtseinführung Trumps in ihrem aktuellen Buch zu zivilgesellschaftlichem Engagement auf – und äußert darin die Hoffnung für ein demokratisches und freidenkendes Europa. In ihrer akribischen Analyse komplexer Strukturen. (2018)

Toni Morrison - Die Herkunft der Anderen. Ãœber Rasse, Rassismus und Literatur
Aktueller denn je präsentieren sich die Essays der afroamerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison. Ausgrenzung und das Definieren von Anderssein sind Themen, die nicht nur in den USA eine gefährliche Brisanz haben. Wer gehört dazu und wer nicht? Warum scheint der Mensch das Konzept der "anderen" zu brauchen? (2018)

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Die britische Autorin hat ihre eigene Biographie als Bildungsroman geschrieben und offenbart sich darin als Missionarin der heilenden Wirkung von Liebe, Literatur und Vergebung. Ihre Erzählung deckt das Komische im Grausamen auf. (2013)

Seyla Benhabib - die Rechte der Anderen
Die Sozialphilosophin stellt den Universalismus der Menschenrechte in Fragen und fordert eine Auseinandersetzung mit dem Fremden angesichts der brüchig gewordenen westlichen Identitäten. (2009)

Naomi Klein – die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus
Die Autorin des Anti-Globalisierungsbuches "No Logo!" zieht die Verbindung zwischen natürlichen, politischen und wirtschaftlichen Schockzuständen und der Implementierung des Neoliberalismus. (2007)

Susan Neiman - Das Böse denken
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman legt mit ihrem Buch eine andere Geschichte der Philosophie vor, in der sie der Frage nachgeht, ob das Böse überhaupt verstehbar ist. (2006)


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