Fiona Sara Schmidt, Torsten Nagel und Jonas Engelmann (Hg.) – Play Gender. Linke Praxis - Feminismus - Kulturarbeit - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 11.08.2016


Fiona Sara Schmidt, Torsten Nagel und Jonas Engelmann (Hg.) – Play Gender. Linke Praxis - Feminismus - Kulturarbeit
Hai-Hsin Lu, Sharon Adler

Wo finden feministische Kämpfe statt? In dieser Anthologie werden die Schnittstellen gegenwärtiger Debatten, feministischer Kulturarbeit und linker Praxis mit vielfältigen Beiträgen ergründet. Dabei beleuchten die Herausgeber_innen und ...




... Autor_innen auch die Kämpfe und aktivistischen Ansätze der letzten 30 Jahre. Ein großartiger Abriss feministischer Themen!

Wie steht es heutzutage eigentlich um den Feminismus? Laut Ronja von Rönnes Beitrag "Warum mich der Feminismus anekelt" scheint Deutschland den Höchstgrad an Emanzipation schon erreicht zu haben. Für die zahlreichen Schriftsteller_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen, die für den Sammelband "Play Gender" schrieben, sprachen und illustrierten, ist diese Haltung fernab ihrer Lebensrealität. Gemeinsam bringen sie zur Sprache, was gesellschaftlich verändert werden muss und wie sie es anpacken wollen. Dabei stellen sie gesellschaftliche Normen in Frage, darunter die binäre Einteilung aller Menschen in Männer und Frauen, etablieren neue Deutungen und umspielen Geschlechterfluidität und Femininität– so wie es der Titel andeutet. Die einzelnen Kapitel werden von Martina Minette Dreier ("We are what is next!") durch skizzenhaft angelegte Schwarz-Weiß-Illustrationen eingeführt, die Menschen abseits des Mainstreams abbilden.

Feminismus bleibt notwendig

Der Sammelband setzt sich aus drei Teilen zusammen: "Feminismus", "Kulturarbeit" und "Linke Praxis". Diese unterschiedlichen Themenkomplexe spiegeln die vielfältigen Biographien der Herausgeber_innen wieder, die sowohl aktivistisch, kulturschaffend, als auch wissenschaftlich tätig sind. Von Beiträgen über aktuelle Debatten, beispielsweise "#aufschrei" oder auch über die "Slutwalks", bis zu feministischem Hiphop ist ein breites Spektrum an Sujets abgedeckt.

Aktivismus in Film und Rap

Die Journalistin und Schriftstellerin Mithu M. Sanyal ("Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts") eröffnet "Play Gender" mit einem Status Quo des gesellschaftlichen Diskurses über Genderfrage der letzten fünf Jahre: "Im Westen was Neues. Warum wir wieder über Sexismus debattieren" heißt ihr Beitrag, in dem die neuaufkommende gesellschaftliche Diskussion um Sexismus behandelt wird. Darin analysiert sie neue Erscheinungsformen von Diskriminierung und spricht über die Kampagne "#aufschrei" und den gemeinsamen Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen 218. "Sexuelle Gewalt" und "körperliche Selbstbestimmung" sind die großen Schlagworte, die im scheinbar gleichberechtigten Deutschland bis vor einigen Jahren noch einen antiquierten Beiklang hatten, durch verschiedene Aktionen und Kampagnen nun wieder Aufmerksamkeit erlangen. Sanyal beschäftigt sich weitergehend mit der Thematik – ihr neues Buch "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" erscheint Ende August 2016 im Nautilus Verlag.

Die Autorin, Publizistin und Filmemacherin Sarah Diehl schreibt in ihrem Artikel "... ich kam dazu wie die Jungfrau zum Kind" über ProChoice-Aktivismus und Dokumentarfilme. Sie stellt ihre Anthologie "Deproduktion – Schwangerschaftsabbruch im internationalen Kontext" (2006) vor, die von ihr auch als Dokumentarfilm produziert wurde. Sie stellt die Frage danach, wie das Thema Abtreibung in unterschiedlichen Gesellschaften, etwa in Polen und Südafrika wirkt. In dem Kontext geht sie auch auf ihre Verantwortung als Filmemacherin ein: "Auch wenn keine es sagt, muss ich mir darüber im Klaren sein und ehrlich zu meiner Machtposition Bezug nehmen, die Machtposition, aus der heraus ich als junge weiße Europäerin überhaupt in der Lage war, nach Südafrika zu gehen, um diesen Film zu drehen."

In einem weiteren Beitrag schreibt die queerfeministische Rapperin Sookee über den ausgeprägten Heterosexismus im Rap. Ihr Titel lautet passenderweise: "Es heißt nicht ´Fick deine Mutter´, sondern ´Grüß deine Mutter´". Sie thematisiert die popkulturelle Rolle von Rap, die Verbreitung von pornografisierter Gewalt und die stützende Funktion, die Rap für die "Rape Culture" einnimmt. Auch schreibt sie über ihre eigene Musik und den sprachlichen Wandel, den sie darin vollzieht: "Ich habe versucht, mit dem Albumtitel ´Bitches Butches Dykes & Divas´ genau das zu ermöglichen: Konzepte von Weiblichkeit konkurrenzlos nebeneinander zu stellen, wo sie sonst entweder abwertend, stereotypisierend oder völlig voneinander losgelöst verwendet werden."

Allianzen und Antirassismus

Mit Beiträgen zur pro-(queer)feministischen Männerbewegung wollen die Herausgeber_innen auf die Allianzen hinweisen, die im Kampf um Gleichberechtigung unabdingbar sind. In einem Interview mit dem Soziologen Sebastian Scheele wird beispielsweise die Strömung der konservativen Maskulinisten verortet und gezielte Gegenstrategien für ein non-binäres Geschlechtermodell erdacht, das insbesondere feministische Männer ansprechen soll.
Einen weiteren Schwerpunkt setzt der Sammelband im antirassistischen Feminismus. Die Genderforscherin Mart Busche zieht im Rahmen ihres Beitrags Parallelen zwischen Antisexismus und Antirassismus: "Wie kann eine antisexistische Haltung glaubwürdig von einem Mann eingenommen werden? Wie sieht eine antirassistische Positionierung, eine antirassistische Handlung aus einer weißen und/oder mehrheitsdeutschen Position heraus aus?" Mit diesen Fragen geht sie auf die Konzepte des Kritischen Weißseins und der Intersektionalität ein und sucht nach einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit.

Queer-Feminismus privat und organisiert

In mehreren prägnanten Interviews schildern Journalist_innen, Literat_innen und Kulturschaffende ihren persönlichen Werdegang. Mit Fragen wie: "Wie kamst du zur Auseinandersetzung mit Genderfragen und Feminismus?" werden Biographien und Politisierungsprozesse plastisch beschrieben. So spricht beispielsweise die Musikjournalistin Christina Mohr in dem Interview "Hi, Freaks!" über ihre Jugend in den experimentierfreudigen 1980er Jahren, feministische Praxis im Alltag und ihre persönlichen Gender-Utopien: "Ich versuche geschlechtssensibel zu sprechen und zu schreiben, ich liebe es, LeserInnenbriefe an Zeitungen zu schreiben, die sexistische Artikel veröffentlichen und prangere sexistische Werbung an – solche Sachen halt."

Der Themenblock zu linker Praxis bearbeitet Queer-feministische Kollektive und Arbeitsgruppen, sowohl aus den letzten drei Jahrzehnten, als auch momentan aktive. Ob der militante Feminismus der "Roten Zora" in den 70er und 80er Jahren, die in Solidarität mit den Kämpfen der Weltmarktarbeiter_innen handelten, die Queer_Feminismus-AG der Interventionistischen Linken Berlin, oder auch das Leipziger Projekt "Conne Island", das nach einer feministischen Gestaltung ihres kulturellen und politischen Programms strebt.

Mit einer Fülle von Informationen und Denkanstößen ist es den Herausgeber_innen gelungen, eine weitreichende Sammlung feministischer Debatten und Auseinandersetzungen zusammenzutragen. Wie steht es also um den Feminismus? Nach der Lektüre von "Play Gender" werden die Leser_innen darin bestärkt, laut zu sein, sich einzumischen und ihren/seinen Feminismus tagtäglich (neu) zu leben.

AVIVA-Tipp: Mit Beiträgen, die sowohl Theorie, Praxis und Privates beinhalten, aktuelle Debatten aufgreifen und zu alltäglichen Interventionen anregen, ist der Sammelband ein neues Standardwerk zum Feminismus.

Zu den Herausgeber_innen:

Fiona Sara Schmidt
, geboren 1985, studierte an der Justus Liebig Universität Gießen und der Universität Wien Komparatistik. Währenddessen und danach arbeitete sie als Kulturschaffende und freie Journalistin im Lektorat und der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. 2009 absolvierte sie ein Praktikum bei dem feministischen Nachrichtenmagazin "an.schläge" in Wien und ist seit 2014 dort leitende Redakteurin.
Mehr Infos: www.anschlaege.at
Torsten Nagel, geboren 1962, ist Diplom Soziologe und arbeitet seit Jahren mit soziokulturellen Konzepten in kulturellen und politischen Arbeitsfeldern. In diesem Kontext initiierte er 2009 in Köln das Modellprojekt "play gender" www.playgender.de, das Auslöser für das gleichnamige Buch war. Er leitete u.a. Worskhops zu "Genderwissen in der Praxis" an der Ruhr-Universität Bochum und koordinierte das Ladyfest Köln. Außerdem ist er Autor für die "testcard", Beiträge zur Popgeschichte vom Ventil Verlag.
Jonas Engelmann, geboren 1978, ist Schriftsteller und Verleger. Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft in Mainz und promovierte zu selbstreflexiven Comics. Seine Abschlussarbeit wurde 2012 mit dem Roland-Faelske-Preis ausgezeichnet. Als freier Journalist schreibt er u.a. zu Filmen, Musik, Literatur, Feminismus und jüdischer Identität. Zu jüdischer Subkultur gab er den Sammelband We are ugly but we have the music (2012) heraus. Sein neues Buch Wurzellose Kosmopoliten (2016) handelt von jüdischer Popkultur. Eine Rezension dazu wird in Kürze auf AVIVA-Berlin veröffentlicht. Beide Bücher erschienen im Ventil Verlag.
Mehr Infos: www.ventil-verlag.de

Fiona Sara Schmidt, Torsten Nagel, Jonas Engelmann (Hg.)
Play Gender
Linke Praxis - Feminismus - Kulturarbeit

Ventil Verlag, erschienen Juli 2016
Taschenbuch, 247 Seiten, Abbildungen von Martina Minette Dreier
ISBN 978-3-95575-049-7
18,00 Euro
www.ventil-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Laurie Penny - Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution
Schnoddrig wie gewohnt schreibt die Autorin von "Fleischmarkt" sich auch hier wieder ihre Wut vom Herzen. Ihren klaren Blick verliert sie dabei jedoch nie – auch nicht in Bezug auf vermeintliche MitstreiterInnen im Kampf um eine gerechte Welt, denen sie Blindheit für die wirklichen Herausforderungen vorwirft. (2015)

Anne Wizorek - Weil ein Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute
Das F in Feminismus steht für Freiheit. Die Berliner Publizistin und Initiatorin der #aufschrei-Kampagne erklärt in ihrem Buch, wie wir gemeinsam eine bessere Gesellschaft für alle schaffen können. (2014)

Interview mit Kerstin Grether - An einem Tag für rote Schuhe
Sie hat nicht nur den Pop-Feminismus für Deutschland erfunden, sondern ihn auch gleich noch in ihrem Debüt "Zuckerbabys" sowie in der Musikgeschichten-Sammlung "Zungenkuss" (Suhrkamp 2007) veredelt. (2014)

I think feminism is one of the sexiest things out there - Interview with Laurie Penny
The British blogger, journalist and author of "Meat Market – Female Flesh under Capitalism" talked to AVIVA-Berlin about angry women, western rape culture and why feminists have better sex. (2013)

Sarah Diehl - Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift
Ihre Bücher erscheinen immer genau zum richtigen Zeitpunkt für mich. Kaum hatte ich die Pubertät hinter mir, gab Sarah Diehl die Anthologie "Brüste kriegen" heraus, die sich mit weiblicher Pubertät beschäftigte. (2014)

Tine Plesch - Rebel Girl. Popkultur und Feminismus
"Rebel girl - when she talks, I hear the revolution", singt die Riot-Grrrl-Band Bikini Kill Anfang der 90er Jahre. Auch heute gilt diese Liedzeile der viel zu früh verstorbenen Journalistin und Poptheoretikerin Tine Plesch und ihrer gerade erschienen Textsammlung zu Popkultur und Feminismus. (2013)

We are ugly but we have the music - herausgegeben von Jonas Engelmann, Hans-Peter Frühauf, Werner Nell und Peter Waldmann
Die Herausgeber und AutorInnen dieses ungewöhnlichen Buches begeben sich auf die Suche nach den Spuren jüdischer Erfahrungen und Identitäten in der Subkultur, vor allem in der Punkmusikbewegung. (2013)

Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung. Herausgegeben von Katja Peglow und Jonas Engelmann. Erweiterte Neuauflage mit Pussy Riot und Slutwalks
"Revolution Girl Style Now!" lautete Anfang der 1990er Jahre der Schlachtruf einer feministischen Musikbewegung, die von Bands wie Bikini Kill, Bratmobile oder Heavens to Betsy ins Leben gerufen wurde. Beth Ditto von "Gossip" beruft sich heute ausdrücklich auf die Riot-Grrrl-Inspiration – doch Female Anger wird 20 Jahre später wieder als "unsexy, uncool oder hysterisch" verstanden, so die "Riot Grrrl Revisited"-HerausgeberInnen Katja Peglow und Jonas Engelmann. (2012)

Slutwalk
Der erste Berliner Slutwalk ist vorbei und er war großartig. 3.500 Menschen wanderten am 13. August 2011 vom Wittenbergplatz bis zum Gendarmenmarkt, um gegen Vergewaltigungsmythen und Victim-blaming zu protestieren. (2011)

Interview mit Sookee
"Bitches Butches Dykes & Divas", so der Titel ihres neuen Albums. Den gleichnamigen Track hat sie eigens für den Slutwalk komponiert. Über die Bambi-Verleihung an Bushido, Sprache als Werkzeug, die Überwindung von Geschlechterstereotypen oder die Unterschiede zwischen der Generation Emma und der Generation Butler sprachen wir im Dezember 2011 mit Quing Sookee. (2011)

Mithu M. Sanyal - Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts
"Da unten" oder "zwischen den Beinen" liegt noch immer hoch im Kurs, um dem weiblichen Genital einen Namen zu geben. Kürzer, präziser und klangschöner ist doch dieses Wort: Vulva. (2009)

Hot Topic – Popfeminismus Heute
Mit 27 Beiträgen zu Themenbereichen wie Sexualität, Aktivismus, Medien und Alltag, bietet Herausgeberin Sonja Eismann eine umfassende Analyse vom gelebten Feminismus junger Frauen. Großartig! (2007)

Brüste kriegen. Eine Anthologie, herausgegeben von Sarah Diehl
Ein ambitioniertes literarisches Projekt aus dem Verbrecher Verlag: Autorinnen und Illustratorinnen erinnern sich an Freuden und - vor allem - Leiden des Frau-Werdens. (2004)


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Beitrag vom 11.08.2016

AVIVA-Redaktion