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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.05.2021


Juli Zeh - Ãœber Menschen
Silvy Pommerenke, Sharon Adler

Der neue Roman von Juli Zeh ist ganz im Zeichen der Corona-Pandemie geschrieben, und hat als Schauplatz, wie bereits in ihrem Roman "Unterleuten", das ländliche Umland von Berlin. Dora, Werbetexterin und Protagonistin, verwirklicht sich ihren Traum und kauft ein kleines Häuschen in dem fiktiven Örtchen Bracken und wird dort mit AfD-Wähler*innen und Nazis konfrontiert.




Dora und Robert leben in einer geräumigen Kreuzberger Altbauwohnung, sie trennen ihren Müll, ernähren sich nachhaltig und diskutieren bis spät in die Nacht bei Rotwein über Gott und die Welt. Er engagiert sich für Klimaschutz, während Dora als Texterin in einer Werbeagentur arbeitet und politisch korrekte Kampagnen für vegane Produkte entwickelt. Als beide während der Pandemie auf das Home-Office zurückgeworfen sind, entstehen tiefe Gräben zwischen ihnen, da Dora dem zunehmenden Aktionismus von Robert (er geht immer mehr in seinem Corona-Blog auf, wacht akribisch über die Mülltrennung und lehnt eine gemeinsame Familienplanung ab, da diese "schlecht für das Klima" sei) nur bedingt etwas abgewinnen kann. Wie gut, dass sie sich schon vor der Pandemie ein kleines Häuschen im Brandenburgischen zugelegt hat.

In einer Nacht- und Nebelaktion verlässt sie Berlin, und wird in ihrer neuen Wahlheimat mit einem Paralleluniversum konfrontiert, von dem sie zwar schon gehört hatte, aber nicht glaubte, dass es dies wirklich gäbe. Sie war zu sehr in ihrer links-liberalen Großstädter*innenblase gefangen, als dass sie die realen politischen Zustände erfasst hätte. Und als sich der direkte Nachbar mit den Worten vorstellt: "Ich bin hier der Dorfnazi", und sie am Briefkasten eines schwulen Paares ein paar Häuser weiter einen AfD-Sticker entdeckt, ist sie geschockt. Ihrem ersten Impuls, zurück in die Großstadt zu fliehen, gibt sie nicht nach, da sie nicht zurück zu Robert kann und will. Also versucht sie sich von den Dorfbewohner*innen fernzuhalten, was ihr nicht gelingt. Stattdessen wird sie sukzessive in die Dorfgemeinschaft und deren rechte Ideologien eingebunden.
Ihre anfängliche innere Gegenwehr scheitert an ihrer Schockstarre, aktiv gegen den Rassismus und Nationalismus in ihrer unmittelbaren Nachbar*innenschaft anzugehen. Das macht die Hauptfigur nicht wirklich sympathisch und zeigt in aller Deutlichkeit, wie sich dieses schleichende Gift ungefiltert bis in alle Gesellschaftsschichten durchsetzen kann. Es ist anscheinend eine Leidenschaft von Juli Zeh, sich Themen wie diese auszusuchen und Charaktere zu entwickeln, die – gelinde gesagt – mindestens fragwürdig sind.

Auch wenn Juli Zeh den Zwiespalt ihrer Figur Dora ausführlich beschreibt, so fällt es schwer, dabei zuzusehen, dass sie sich nicht positioniert. All ihre zaghaften Bemühungen verpuffen ins Leere und zeigen, dass sie nicht aus ihrer Heile-Welt-Blase herauskommt.
Damit beschreibt dieser Roman – ob intendiert oder nicht wird nicht wirklich klar - das Phänomen des Mitläufer*innentums, das symptomatisch ist für weite Teile der Gesellschaft, ohne die der "Erfolg" einer legal gewählten rechtsextremen Partei in diesem Land gar nicht erst möglich wäre.

So macht es Juli Zeh der Leser*in nicht leicht, die Handlungsweise von Dora und den anderen Figuren kommentarlos zu folgen. Es regt sich (wenn schon nicht bei der Protagonistin, so doch bei der Rezensentin) Widerstand beim Lesen, was vermutlich – so hoffen wir zumindest - von der Autorin intendiert war.

AVIVA-Tipp: "Über Menschen" ist ein bitter-böses Gesellschaftsportrait in Zeiten von Corona, das die Unfähigkeit der Protagonistin in den Fokus stellt, Rassismus etwas entgegenzusetzen.

Zur Autorin: Juli Zeh: 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman Adler und Engel (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015), und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2019). 2018 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.

Juli Zeh
Ãœber Menschen

Luchterhand Verlag, erschienen 03/2021
Gebunden, 416 Seiten
ISBN 978-3630876672
Euro 22,00

Mehr zum Buch unter: www.randomhouse.de

Ein Interview zu "Ãœber Menschen" mit Juli Zeh "Zehn Fragen an Juli Zeh" (Luchterhand Literaturverlag): www.penguinrandomhouse.de

Ein Interview mit Juli Zeh aus der Sendung vom 21.3.2021 auf SWR2 Lesenswert Magazin: www.swr.de

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Juli Zeh - Leere Herzen
Wo Juli Zeh draufsteht, da ist Erfolg drin. Zumal, wenn es sich um so ein politisch hoch-brisantes Thema des Terrorismus handelt, wie in dem Roman "Leere Herzen". Dabei ist die Autorin unerbittlich gegenüber ihren Figuren und zeichnet sie mit unterkühlter und sarkastischer Feder. (2018)

Juli Zeh - Unterleuten
In einem brandenburgischen Dorf mit dem vielversprechenden Namen Unterleuten lässt Juli Zeh, selbst ins Berliner Umland gezogen, ihren neuesten Roman spielen. Ein Konglomerat aus Einheimischen und Zugezogenen, Wessis, die das kleine Paradies suchen und dort geborene Ossis, finden durch einen umstrittenen Windpark als Katalysator zueinander. (2016)

Juli Zeh - Good Morning, Boys and Girls. Theaterstücke
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Dass die scheinbar objektive Realität in potenziell endlose Wahrnehmungen zerfällt, ist nicht weiter beunruhigend. Es sei denn, es geht im juristischen Sinne um Schuld. Ein atemraubender Roman und der erneute Beweis, dass Lesen nicht der Konsum von Genussmitteln ist. (2012)


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Beitrag vom 04.05.2021

AVIVA-Redaktion