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Beitrag vom 13.09.2019
Doris Lessing – Worum es wirklich geht. Stories
Bärbel Gerdes
Am 22. Oktober 2019 wäre sie hundert geworden – Doris Lessing, die Grande Dame der britischen Literatur, die mit dem "Goldenen Notizbuch" in den 1970ger Jahren in feministischen Kreisen Weltruhm erlangte. Zu diesem Geburtstag hat der feine Verlag ebersbach & simon einen Band ihrer Kurzgeschichten herausgebracht – eine Sammlung, die zum (Wieder-)Entdecken einlädt und beweist, wie meisterinnenhaft Lessing auch die kurze Form beherrscht.
100. Geburtstag von Doris Lessing am 22. Oktober 2019
Speziell, ein bisschen schroff und unsentimental sei sie gewesen, schreibt Lea Albring 2013 in ihrem Nachruf zum Tode Lessings und zeichnet prägnant das Leben der Schriftstellerin auf: geboren im Iran, aufgewachsen in Südrhodesien, ist schon das junge Mädchen höchst eigenwillig und rebellisch.
Mit 14 Jahren verließ sie die Schule, arbeitete als Büroangestellte, heiratete zweimal und ließ sich scheiden, ließ die Kinder beim Vater zurück, engagierte sich in kommunistischen Gruppen und wanderte schließlich mit einem ihrer kleinen Söhne 1949 nach London aus.
Gleich ihr erster Roman The Grass is Singing (1950, dt. u.d.T.: Afrikanische Tragödie, 1953) wurde ein großer Erfolg. In diesem Roman geht es um den Rassismus in den afrikanischen Kolonien. Gleichzeitig kritisiert Lessing das inhaltslose Leben der britischen Gesellschaft.
Ihr in den 1950ger und 60ger Jahren erschienener Romanzyklus Children of Violence (dt.: Kinder der Gewalt), deren Protagonistin Martha Quest ist, weist starke autobiographische Züge auf. Immer geht es der politisch höchst engagierten Lessing um Fragen der Gesellschaft und um den Rassismus.
Eine vollkommene Wende stellt der ebenfalls fünfbändige Romanzyklus Canopus in Argos: Archives dar, in dem sie das Genre des Science Fiction nutzt. Er erschien von 1979 bis 1983.
Und mitten drin liegt also Das Goldene Notizbuch. In ihm beschreibt sie das Leben der beiden Freundinnen Anna Wulf, eine Schriftstellerin, und der Schauspielerin Molly Jacobs. Lessing zeichnet ein Bild der Frauen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit psychologischem Gespür enttarnt sie die Verheerungen, die eine Generation tragen musste, die zu Beginn des Jahrhunderts zur Welt kam und geprägt war von Krieg, Totalitarismus und den Gegensätzen von Nationalismus und Kommunismus. Lessing beschreibt gnadenlos den Geschlechterkampf und wurde dafür teilweise im Feuilleton scharf kritisiert, von den Frauen jedoch gefeiert. Lange Zeit galt das Buch als eine Art Bibel für Feministinnen.
Doris Lessing war eine emsige Schriftstellerin. Neben den vielen Romanen schrieb sie Gedichte, Kurzgeschichten, Autobiographisches, Essayistisches und Fernsehspiele. Angetrieben von durchaus unschönen Charaktereigenschaften: der Wut gegen Zwänge, der Auflehnung gegen Unterdrückung, der Hartnäckigkeit und dem scharfen Urteil über andere, so Simone Frieling in ihrem Nachwort, erwuchs so ein bedeutendes literarisches und auch politisches Werk.
Als sie 2007 mit achtundachtzig Jahren den Literaturnobelpreis erhielt, schäumte manche Zeitung. Die bedauerliche Wahl der Doris Lessing titelte Die Welt, die Das Goldene Notizbuch einen Empfindsamkeitsroman nannte und spekulierte, dass wohl eher das Geschlecht als die Qualität ihrer Literatur eine Rolle gespielt habe. Die Schwedische Akademie indes nannte sie die Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat.
Am 17. November 2013 starb Doris Lessing in London - lakonisch, unbestechlich, eine große Spötterin.
Von der Güte ihres Schreibens können wir uns jetzt noch einmal in dem Band Worum es wirklich geht überzeugen. Eine erstklassige Auswahl bissiger, ironischer und komischer Geschichten ist da zusammengekommen. Großartig porträtiert Lessing in der titelgebenden Geschichte ein geschiedenes Ehepaar, das sich mit den neuen Lebens- und zukünftigen EhepartnerInnen trifft, um sich miteinander anzufreunden. Psychologisch ausgefeilt, mit viel unterschwelligem Humor setzt sie die vier Personen einander der verblüffenden Erkenntnis aus, dass das "alte" Ehepaar noch sehr viel mehr Paar ist, als es geschiedene Leute sein sollten.
In der fast surrealen Geschichte Wie ich mein Herz verlor trägt die Frau ihr blutiges und schwer verletztes Herz eingewickelt mit sich herum, nicht sicher, ob sie es verschenken sollte, wie sie es einst getan hatte: "wir waren bereit, diese Herzen einander wie Schneebälle ins Gesicht zu werfen, wie Kricketbälle".
AVIVA-Tipp: Die Sammlung Worum es wirklich geht zeigt, wie aktuell Doris Lessing immer noch ist und auch wie vielseitig sie war. Der Band bietet eine schöne Gelegenheit zur Wiederentdeckung oder erstmaligen Erkundung.
Zur Autorin: Doris Lessing wurde 1919 in Kermānschāh, Persien, geboren und wuchs in Südrhodesien auf. 1949 wanderte sie nach London aus. Bereits 1950 erschien ihr Roman The Grass is Singing. Es folgten zwei mehrbändige Romanzyklen und zahlreiche Kurzgeschichten, Stücke und weitere Romane, darunter Memoirs of a Survivor (1974, dt. u.d.T.: Memoiren einer Überlebenden) und ihr letzter Roman The Cleft (2007, dt.: Die Kluft, 2007). Doris Lessing wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, vom Somerset Maugham Award 1954 bis zum Literaturnobelpreis im Jahre 2007.
Doris Lessing starb am 17. November 2013 in London.
Mehr Infos zur Autorin: www.dorislessing.org
Doris Lessing
Worum es wirklich geht. Stories
Mit einem Nachwort von Simone Frieling
ebersbach & simon, erschienen am 21. August 2019
194 Seiten, Lesebändchen, Fadenheftung, Einband: Halbleinen
ISBN 978-3-86915-190-8
Euro 20,00
Mehr zum Buch: www.ebersbach-simon.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zum Tod von Doris Lessing
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Weiterlesen im Netz: Ein ausführlicher Nachruf findet sich auf den Seiten der New York Times