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Beitrag vom 10.02.2018
Juli Zeh - Leere Herzen
Silvy Pommerenke
Wo Juli Zeh draufsteht, da ist Erfolg drin. Zumal, wenn es sich um so ein politisch hoch-brisantes Thema des Terrorismus handelt, wie in dem Roman "Leere Herzen". Dabei ist die Autorin unerbittlich gegenüber ihren Figuren und zeichnet sie mit unterkühlter und sarkastischer Feder.
Die Protagonistin Britta Söldner ist so eine unterkühlte, aber zugleich äußerst pragmatische Figur. Juli Zeh verortet sie in naher Zukunft (wir schreiben das Jahr 2025), so dass "Leere Herzen" nicht wirklich Science-Fiction ist, aber doch der Autorin die Möglichkeit lässt, ein völlig neues politische Szenario Deutschlands zu entwickeln. Dazu gehört, dass Angela Merkel keine Kanzlerin mehr ist, und eine Partei namens BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung – quasi das Fortdenken der AfD) an der politischen Spitze steht. Britta hat sich in dieses System installiert und führt mit ihrem Kompagnon Babak ein äußerst erfolgreiches Unternehmen. Ihre Freundin Janina bringt es auf den Punkt: "Je schlechter es den Leuten geht, desto besser geht es euch." Janina scheint von den ganzen Figuren sowieso die Unbekümmertste zu sein. Allein ihre Aussage: "Ich genieße es in vollen Zügen, dass mich die meisten Dinge nichts angehen", löst in der Leser*in latentes Befremden aus. So leicht könnte das Leben also sein... Doch Juli Zeh hat nichts Gutes mit dieser Figur vor. Sie bezeichnet sie als "gelebter Durchschnitt", und so möchte ja nun wirklich niemand bezichtigt werden. Auch keine Romanfigur.
Aber zurück zu Britta und ihrer Firma: die "Brücke" wirbt mit dem Slogan, eine Heilpraxis für Psychotherapie zu sein, mit dem Schwerpunkt Ego-Polishing. Dabei handelt es sich jedoch um ein "perfekt optimiertes Terrorismusgeschäft", wie es Juli Zeh im Interview bei "Druckfrisch" beschreibt. Die "Brücke" rekrutiert nämlich suizidal-willige Menschen, damit diese - wenn sie nach ihrer eigenen Wahrnehmung schon ein sinnfreies Leben führen - wenigstens einen sinnbringenden Tod als Selbstmordattentäter*in erfahren. Britta und Babak vermitteln die Kandidat*innen (nachdem diese ein Hardcore-Training inklusive Waterboarding absolviert haben) an politische Organisationen oder Geheimdienste, die sich dann einem vermeintlich höherem Ziel opfern. Einzige Bedingung: möglichst geringer Kollateralschaden und maximale Außenwirkung. Skrupel sind da natürlich fehl am Platz. So ist Britta denn auch äußerst distanziert und pragmatisch am Werk, mit einem latenten Sauberkeitszwang. Sympathisch ist diese Figur nicht, aber das soll sie ja auch nicht sein.
Zu Brittas häuslichem Glück gehören noch ihre Tochter Vera und ihr Mann Richard, der nicht ganz so erfolgreich, dafür aber sympathischer ist. Seine Karriere scheint in Gestalt eines gönnerhaften privaten Investors eines Tages doch noch richtig in Schwung zu kommen. Was Richard nicht weiß, ist, dass dieser es eigentlich auf Britta abgesehen hat. Ein Wettlauf um Leben und Tod beginnt...
"Leere Herzen" ist Politthriller und Gesellschaftskritik in einem. Wer Juli Zeh bereits in Interviews oder auf Lesungen gehört hat, weiß, dass sie eine kluge und äußerst eloquente Frau ist, die aus dem Stegreif druckreife Sätze abgibt. Ihr dabei zuzuhören ist absolut faszinierend. Komischerweise erzeugt sie in "Leere Herzen" mit dem geschriebenen Wort nicht die gleiche Faszination. Sie bleibt - trotz der mutig erdachten Story - hinter ihrem eigentlichen intellektuellen und schriftstellerischen Niveau zurück. Nichtsdestotrotz liest sich dieser Zukunfts-Roman – wie eigentlich alles von Juli Zeh – als weitergedachte Gegenwart, als Großkritik an den gesellschaftlichen Umständen, mit einem radikalen Lösungsvorschlag. Juli Zeh, der moralische Zeigefinger der Nation, polarisiert die Kritiker*innen und Leser*innen. Das ist nichts Neues. Aber genau so jemanden brauchen wir, damit wir nicht mit leeren Herzen auf unseren Sofas sitzen bleiben und bei der entscheidenden Frage "Wenn du auf deine Waschmaschine oder dein Wahlrecht verzichten müsstest - wie entscheidest du dich?" nicht mit der Waschmaschine antworten.
AVVA-Tipp: In welches Genre "Leere Herzen" auch immer einsortiert wird, ob nun Politthriller, Zukunftsvision oder moralisches Drama, so liest sich auch dieser Roman von Juli Zeh äußerst kurzweilig, ohne dass es an hochbrisantem Inhalt mangelt. Und es gilt, wie bereits im Teaser formuliert: Wo Juli Zeh draufsteht, steckt Erfolg drin!
Zur Autorin: Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) sowie dem Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt (2017). (Quelle: Verlagsinformationen)
Juli Zeh im Netz: www.juli-zeh.de und auf Facebook
Juli Zeh
Leere Herzen
Luchterhand Literaturverlag, erschienen November 2017
Gebunden mit Schutzumschlag, 352 Seiten
ISBN: 978-3-630-87523-1
Euro 20,00
Mehr zum Buch unter: www.randomhouse.de
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