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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 24.10.2019


Regina Scheer - Gott wohnt im Wedding
Sharon Adler

Die Publizistin, Historikerin, Liebermann-Biografin und Herausgeberin begibt sich nach ihrem Roman "Machandel" wie schon in "AHAWAH. Das vergessene Haus. Eine Spurensuche in der Berliner Auguststraße" erneut auf eine Recherchereise. Diesmal stellt sie in ihrem fiktiven Roman ein Haus und seine BewohnerInnen in den Mittelpunkt. Vielschichtig und mittels unterschiedlicher Zeitebenen und Perspektiven verknüpft die große Erzählerin Regina Scheer Vergangenes und Gegenwärtiges zu einem kunstvollen Mosaik.




Ich bin das älteste Haus in der Straße. Irgendwo hinterm Leopoldplatz soll es noch ältere geben, aber das habe ich natürlich nicht gesehen. Ich habe überhaupt nur gehört, was hier auf meinem Hof, zwischen meinen Wänden geredet wurde, und nur gesehen, was da geschehen ist, und das reicht mir auch."

Damit läutet die Autorin ihre Geschichte ein, die sich um ihre ProtagonistInnen rankt wie Efeu um das alte Gemäuer.

Im Prolog erinnert sich das Haus, das nun schon seit über einhundert Jahren Menschen beinahe jeden Alters und Nationalitäten beherbergt hat, an seine Anfänge, an Gesichter und Geschichten. Und obwohl es sich um ein Werk der Fiktion handelt, "Personen und Handlung frei erfunden sind", stehen die Schicksale der einstigen und heutigen BewohnerInnen des Hauses in der Utrechter Straße in Berlin-Wedding stellvertretend für Generationen und Epochen.

Einer der ehemaligen Bewohner des Hauses ist Leo Lehmann, der für ein paar Tage aus Israel nach Berlin gekommen ist, um nun, nach dem Tod seiner Frau, die jahrelangen und zähen Verhandlungen mit der deutschen Bürokratie um das während der NS-Zeit geraubte Eigentum ihrer Familie zu einem hoffentlich guten Ende zu bringen.

Dass Leo Lehmann nach mehr als 70 Jahren mit seiner Enkelin während eines Berlinbesuchs ausgerechnet im Berliner Wedding landen würde, war so nicht geplant. Nira hatte das Hotel gebucht, weil die Zimmer hier günstiger als im Rest der Hauptstadt sind. Vor allem aber mit seiner Lage wirbt das Hotel namens "Steps", das, und das erinnert der alte Herr sofort, einst ein ganz normales Mietshaus war "mit falschen Säulen und Simsen an der mit Klinkern verblendeten Fassade."

Wedding, einstiges Arbeiter*innenviertel, ist heute "hip" und bunt, zählt zu Berlin-Mitte und ist vor allem eins: international. Auch viele Israelis leben hier, Tür an Tür mit Arabern, Türken, Russen, Polen, Schwaben und Bayern.

Als er das letzte Mal in dieser Gegend war, war sie noch eine Trümmerlandschaft, und Leo erinnert sich "(…) die alten Häuser wieder zusammengeflickt, die Löcher zugeschmiert, die Fassaden verputzt, das können sie ja gut, die Deutschen"

Und so hängt er seinen Gedanken nach, erinnert sich an vergangene Zeiten, seine Jugend und an das, was er damals erlebt und durchgemacht hat, an die Freunde, Freundinnen, enttäuschte Liebe, Verrat. Der alte Mann lässt sich fallen in seine Gedanken, treibt fort mit ihnen und wird immer wieder vom Berlin der Gegenwart eingeholt.

Warum ausgerechnet (nach) Deutschland?

Auf diese Frage antwortet Frana, die Großmutter von Laila, mit einem selbsterklärenden Argument "In Hamburg gibt es schon lange keine Pogrome mehr." Und obwohl Lailas Mutter, Flora, selbst dann lieber in Polen geblieben wäre, als 1981 in Chrzanów und anderswo die Häuser der Roma brennen und die Nachbar*innen sich gegen die "Zigeuner" zusammenrotten, leben die Frauen heute in Berlin.

Damals wie heute steht Berlin für einen Melting pot der Kulturen und Regina Scheer lässt die Leserin vor dem Hintergrund teilhaben an den Lebensgeschichten der BewohnerInnen, ihren Träumen, ihren Sorgen und zerstörten Leben.

Sie erzählt die Geschichte von Leos Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss ("Chuzpe") eröffnet hat. Laila, die seit 24 Jahren hier lebt und erst hier erfährt, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud Romberg, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.

Plastisch und mit großer Empathie zeichnet die großartige Chronistin und Beobachterin Regina Scheer ihre Figuren, die stellvertretend für jene stehen, die ganz genau so gelebt haben könnten. "Gott wohnt im Wedding" ist ein großes und empathisches Zeugnis jüdisch-deutscher Geschichte. Eben jener Geschichte dieser unvergleichlichen Stadt, Berlin, setzt Regina Scheer ein Denkmal, einer Stadt, die für so viele Heimat bedeutete. Selbst diejenigen, die von hier vertrieben wurden, verbinden auch nach noch über 70 Jahren das Wort "Heimat" mit dieser Stadt, Berlin, und stehen damit in der Tradition von Mascha Kaléko, die aus dem Exil dichtete "Meine Heimat heißt Savignyplatz".

AVIVA-Tipp: Regina Scheer versteht es meisterinnenhaft, Geschichten zu erzählen. Geschichten, die berühren und weit über die letzte Buchseite hinaus fesseln und im Gedächtnis bleiben. "Gott wohnt im Wedding" ist so eine Geschichte. Zärtlich, voller Wärme und Melancholie, und trotz aller Trauer um den unwiederbringlichen Verlust hoffnungsvoll und wunderschön.

Zur Autorin: Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972–1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift "Forum", deren Redaktion wegen "konterrevolutionärer Tendenzen" aufgelöst wurde. Danach war sie freie Autorin von Reportagen, Essays und Liedtexten und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift "Temperamente". Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur jüdisch-deutschen Geschichte darunter "Im Schatten der Sterne" und "AHAWAH. Das vergessene Haus". Für ihren ersten Roman "Machandel" erhielt sie 2014 den Mara-Cassens-Preis. Dieser nach seiner Stifterin benannte Literaturpreis, der seit 1970 vergeben wird und mit 15.000 Euro der höchstdotierte Literaturpreis für einen deutschsprachigen Romanerstling ist, wird als einziger Literaturpreis von einer LeserInnenjury vergeben.

Regina Scheer
Gott wohnt im Wedding

Penguin Verlag, erschienen 25. März 2019
Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten € 24,00
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.randomhouse.de

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Regina Scheer – "Machandel"
Ein knappes Jahrhundert (ost)deutscher Geschichte erschließt der Debütroman der Kulturwissenschaftlerin Regina Scheer mit seiner Familiensaga um ein mecklenburgisches Dorf namens Machandel und der Lebensgeschichte der Doktorandin Clara Langner, die dem alten Märchen vom Machandelbaum nachspürt. (2015)

Regina Steinitz mit Regina Scheer – "Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin". Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" gibt die "Zeitzeugenreihe" heraus, in der Holocaust-Überlebende zu Wort kommen, von denen viele erst im hohen Alter von dem traumatisch Erlebten ihrer Kindheit und Jugend berichten können. (2015)

Regina Scheer – "Max Liebermann erzählt aus seinem Leben"
Die Liebermann-Biografin zeichnet kenntnisreich das wechselvolle, kreative Leben des Künstlers nach. Das Original-Tondokument seines Vortrags, den der Deutschlandsender am 13. April 1932 sendete, begleitet ihre Aufzeichnungen. Neben den Reden, die er als Präsident der Preußischen Akademie gehalten hat, war dies seine letzte Rundfunksendung. (2011)

Regina Scheer – "Im Schatten der Sterne. Eine jüdische Widerstandsgruppe"
Regina Scheer folgt den Spuren einer jüdischen Widerstandsgruppe in Berlin, deren Mitglieder gegen das nationalsozialistische Regime kämpften und dabei ihr Leben riskierten (2004)

Regina Scheer "AHAWAH. Das vergessene Haus"
Eine Spurensuche in der Berliner Auguststraße. Die Publizistin, Historikerin und Herausgeberin Regina Scheer macht die vergessene Geschichte ihres einstigen Schulhauses lebendig. (Aufbau-Verlag Neuauflage, 2004)


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Beitrag vom 24.10.2019

Sharon Adler