AVIVA-Berlin >
Literatur > Jüdisches Leben
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 24.06.2018
Marina B. Neubert - Kaddisch für Babuschka
Sharon Adler
2013 wurde die Dipl.-Philologin, Journalistin und Schriftstellerin ("Bella und das Mädchen aus dem Schtetl") für ihr Romanprojekt "Vier Tage. Aufzeichnungen aus Mutterstadt" von der Stiftung ZURÜCKGEBEN und der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" im Programm "Jüdische weibliche Identitäten heute" gefördert. Danach aber kam alles anders. Aus "Mutterstadt" ist ein anderer Roman geworden, denn ...
... das Leben und das Vergessen selbst spielte die Regie im Manuskript der Erinnerung. In ihrem poetischen Erinnerungsprotokoll nähert sich Marina B. Neubert über ihre Romanfigur, dem Alter Ego Hannah, protokollarisch ihrer Großmutter sowie der wechselvollen Geschichte Lembergs an, nimmt dabei kunstvoll Vergangenheit wie Gegenwart in den Blick.
Der nun im Frühjahr 2018 im AvivA Verlag veröffentlichte Roman ist dabei jedoch viel mehr als nur eine persönliche Reise der Schriftstellerin in die Vergangenheit. Er ist ein literarischer Kunstgriff, eine spiegelverkehrte Recherchereise in vergessene Welten, die Geschichte der Großmutter und der Enkelin. Ihre gemeinsamen Bezugspunkte, aber auch die Trennung voneinander oder Perspektiven individueller wie kollektiver Erinnerung bestimmen diesen berührenden, tagebuchartig verfassten Roman im Roman.
"Ich weiß nicht, wie lange ich an "Mutterstadt" geschrieben habe. Zehn Jahre vielleicht. Die Romanfigur hieß Hannah und brach von Berlin nach Lemberg auf, um ihre Großmutter zu besuchen, die sie für längst verstorben hielt.
Ich weiß nicht, wie oft ich "Mutterstadt" umgeschrieben habe. Hannah wechselte den Beruf, änderte ihr Aussehen, verliebte sich. Und ihre Mutter, mit den dunklen Geheimnissen und dem Doppelleben zwischen Ost-Berlin und Lemberg, tauchte manchmal auf. Manchmal auch nicht.
Eins weiß ich aber: Von Fassung zu Fassung blieb die Geschichte der Großmutter beständig. Sie war es, um die es sich in Wirklichkeit alles drehte. Aber ich wollte kein Großmutterbuch schreiben.
Seit gestern weiß ich, dass es ein Fehler war."
Dieser "Fehler" schließlich mündete in eine literarische Reise in die Gegenwart und Vergangenheit, "ein Blick dahin, wohin man normalerweise nicht gerne hinsieht." Denn während der Arbeit an ihrem Roman Mutterstadt, in dem sie ihr Alter Ego Hannah nach Lemberg zu ihrer lange tot geglaubten Großmutter reisen lässt, erreicht die Ich-Erzählerin die Nachricht vom Tod der Großmutter.
Im Wechsel zwischen ihrer imaginären Romanfigur Hannah und ihrem "Ich" wechselt Marina B. Neubert scheinbar mühelos die Perspektiven, erlaubt der Leserin genau diesen Blick in das Unbequeme, in die aus vielerlei Gründen mit Schuld behafteten Gefühle, die wohl vor allem in jüdischen Familienstrukturen zuhause sind.
"Ich hielt den Hörer in der einen Hand und mit der anderen gab ich schon die Flugdaten in die Suchmaschine ein.
Ich fliege gleich los, sagte ich, über Warschau, bin morgen in Lemberg.
Ich kann mit der Beerdigung nicht warten, sagte sie.
Was heißt, du kannst nicht warten?
Sie muss unter die Erde, heute noch.
Aber ich bin in zwanzig Stunden da!
So ist es bei den Juden.
Denk doch an mich, Mama!
Und wer wird an Großmutter denken?!"
Ab dem Moment, an dem der Vater der Autorin aus Moskau anruft, um den Tod der Großmutter zu vermelden, begibt sich Marina Neubert auf die Reise zurück in ihre Familiengeschichte, die geprägt ist von Verlust, von Brüchen, von Liebe, aber auch von Unverständnis füreinander. Gleichzeitig reist sie in eine Stadt, die eng mit ihrer jüdischen Biographie verknüpft ist: Lemberg, ihre Heimatstadt, die sie in den 1990er Jahren verlassen hatte. Eine Stadt mit vielen Namen, von Joseph Roth als "Stadt der verwischten Grenzen" bezeichnet.
"Ich kenne diese Stadt besser als alles andere auf der Welt. Die ersten Buchstaben, die meine Großmutter mir beigebracht hat, waren die Buchstaben L-E-M-B-E-R-G. Sie klangen Deutsch und waren Jiddisch: למברג. Lemberg. Lwów. L´viv. Lvov. Leopolis. Ich weiß nicht, ob es irgendwo noch eine Stadt mit so vielen Namen gibt. Man sagt, jeder Name hat sein Schicksal. Im polnischen Lwów ist meine Großmutter geboren und im habsburgischen Lemberg die Urgroßmutter. Hätte es im mittelalterlichen Leopolis einen Juden gegeben, wären wir bestimmt mit ihm verwandt. Meine Mutter und ich sind im sowjetischen Lvov geboren. Und wäre ich selbst Mutter geworden, hätte ich meine Tochter im ukrainischen Lviv zur Welt gebracht."
In Lemberg lebten vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 150.000 Juden, heute sind es nur noch knapp 3000. Von der Bahnstation Klepariw wurden zwischen 1941 und 1943 etwa 500.000 galizische Jüdinnen und Juden in die Gaskammern des weniger als 100 Kilometer entfernten Vernichtungslagers Belzec gebracht. In Janiv bei Lemberg befand sich das als Deportationslager angelegte größte Konzentrationslager in der Westukraine. Marina B. Neuberts Großmutter überlebte das Ghetto von Lemberg. In den Erinnerungen der Autorin an die Kindheit bei ihrer Großmutter werden Bilder wach von der Wohnung in der Wereschaginastraße 8, die heute Popovichastraße heißt. Vor allem von dem großen mahagonifarben Tisch, dem wertvollsten Möbelstück. Hier erlebte das Mädchen das "erste Glück ihres Lebens", machte ihre Hausarbeiten, hier kreierten Großmutter und Enkelin ihren eigenen imaginären Zaubergarten. Bis der 8. Geburtstag dem ein jähes Ende setzte: "Großmutter bestand darauf, dass der Tisch wieder Tisch wird und wir einmal die Woche darauf schlafen. (...). Sie muss lernen, auf Holzbrettern zu schlafen, sagte sie. Wozu? Großmutter gab nie eine Antwort und duldete keinen Widerspruch."
Gleichsam schnörkellos wie sensibel formuliert, teilt die Autorin mit den Leser*innen persönlichste Erinnerungen und Beobachtungen, schöne wie schmerzhafte, Traumata wie Träume, Schuldgefühle um verlorene Momente oder unüberwindbar scheinende Distanzen und die Sehnsucht nach Trost und Zugehörigkeit.
Indem Marina B. Neubert die vier Tage und Nächte beschreibt, die sie gemeinsam mit ihren Eltern in der Wohnung der verstorbenen Großmutter verbringt, und indem sie ihre Romanfigur Hannah auf eben diese Suche nach ihrer unbekannten Babuschka schickt, legt sie Schicht um Schicht der verschütteten Erinnerungen frei – und doch werden es am Ende nur Fragmente, Bruchstücke in der Suche nach der eigenen Geschichte bleiben, die wohl niemals abgeschlossen werden kann.
Das Buch ist also auch ein Entwicklungsroman. Denn die fragmentarischen Erinnerungsbruchstücke werden mehr und mehr zu Liebeserklärungen an die verstorbene Großmutter und die untergegangene jüdische Welt in dieser besonderen Stadt Lemberg, das damals wie heute von Antisemitismus geprägt ist.
"Zidi" nennt man die Juden in Lemberg. Kein Schimpfwort, aber auch kein Ruhmeswort. Ich selbst wurde in der Schule "zidivka" genannt. Und es kam immer auf den Ton an, in dem man das Wort benutzte: neutral, wenn man über mich sprach und meinen Namen nicht kannte, oder abfällig, wenn man mich ärgern wollte."
AVIVA-Tipp: Als Regisseurin ihrer Biographie nimmt sich Marina B. Neubert die Freiheit, diese (neu) zu gestalten und in einem klug konzipierten Roman zu interpretieren. Mit "Kaddisch für Babuschka" ist ein berührender Roman entstanden über die unterschiedlich gewachsenen Perspektiven zur eigenen Biographie. Nicht zuletzt setzt Marina B. Neubert der verstorbenen Großmutter und der untergegangen jüdischen Welt Lembergs ein Denkmal.
Zur Autorin: Marina B. Neubert geboren 1968, ist in Moskau zweisprachig in Deutsch und Russisch aufgewachsen. Anfang der 1990er Jahre kam sie nach Stationen in den U.S.A. nach Deutschland. In Moskau und Hannover studierte sie Literaturwissenschaft, Germanistik und Journalistik. 1994 erhielt sie den "Award of Merit" der Stadt San Francisco für ihr dramaturgisches Werk. 1996 wurde ihr Hörfeature "Erinnerungen" mit dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnet. 2013 wurde ihr Romanmanuskript "Vier Tage. Aufzeichnungen aus Mutterstadt" durch die Stiftung ZURÜCKGEBEN (www.stiftung-zurueckgeben.de) und die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) (www.stiftung-evz.de)gefördert. 2015 feierte ihr Roman "Bella und das Mädchen aus dem Schtetl" (Ariella Verlag) im Rahmen des 50. Jahrestags der Aufnahme der deutsch-israelischen Beziehungen die internationale Premiere auf der Buchmesse in Jerusalem. Marina B. Neubert lebt heute als Autorin und Literaturkritikerin in Berlin.
Marina B. Neubert
Kaddisch für Babuschka
Roman
AvivA Verlag, erschienen 2018
Gebunden, 192 Seiten, mit Leseband
18,- €
ISBN: 978-3-932338-70-0
Mehr zum Buch unter: www.aviva-verlag.de
Der von der Stiftung ZURÜCKGEBEN in Zusammenarbeit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) herausgegebene Katalog "Jüdische weibliche Identitäten heute" (u.a. mit einem Beitrag über/von Marina B. Neubert) steht kostenlos zum Download online unter:
www.stiftung-evz.de
"Die Förderung hat mir damals etwas ermöglicht, was für die Entstehung meines Romans unabdingbar war: Ich konnte Recherchereisen nach Polen und in die Ukraine machen, mir die Zeit für die Arbeit in den Bibliotheken und Archiven nehmen und nicht auf die Uhr schauen, während ich den Zeitzeugen zuhörte. Es war mehr als eine finanzielle Hilfe – es war auch eine moralische Unterstützung. Dafür bin ich sehr dankbar." (Marina B. Neubert)
Copyright Foto von Marina B. Neubert: Sharon Adler