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Beitrag vom 11.03.2018
Wirf deine Angst in die Luft - Die Poesie der Rose Ausländer
Sharon Adler
Das Hörbuch, eine Symbiose aus Lyrik und Musik, gelesen von Alicia Fassel und mit Musik von Jan Rohlfing, wird ergänzt durch seltene Original-Aufnahmen Rose Ausländers selbst. Aufgenommen wurden sie 1976 und 1977 in ihrem Refugium im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. Ein 20seitiges Booklet liefert in chronologischer Auflistung die Eckdaten zu der 1901 in Czernowitz geborenen jüdischen Poetin, für die "Schreiben Leben war, Überleben".
Warum schreibe ich?
Vielleicht, weil ich in Czernowitz zur Welt kam.
Weil die Welt in Czernowitz zu mir kam.
Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen.
Märchen und Mythen lagen in der Luft
Man atmete sie ein.
Warum ich schreibe?
Weil Wörter mir diktieren
Schreib uns
Sie wollen verbunden sein
Verbündete
Wort mit Wort mit Wort.
Die deutsch-jüdische Dichterin Rose Ausländer (geboren 1901 in Czernowitz/Bukowina, gestorben am 03.01.1988 im Nelly Sachs Haus in Düsseldorf) zählt wie Else Lasker-Schüler, Hilde Domin, Paul Celan, Nelly Sachs oder Selma Meerbaum-Eisinger und Mascha Kaléko zu den ganz großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.
Rose Ausländer erlebte Zwangsarbeit, Todesangst, Gefängnis, Versteck, Emigration, Rückkehr und wieder Exil. Sie war displaced person, 2x verheiratet, leidenschaftlich Schreibende. Sie erlebte den Untergang ihrer Heimat, die sie in ihren Shoah- und den Exilgedichten sowie in den Gedichten zur Bukowina, Heimat, Kindheit und Jugend in Worte zu fassen versuchte. Den Tod der Mutter.
Meine Nachtigall
Meine Mutter war einmal ein Reh
Die goldbraunen Augen
die Anmut
blieben ihr aus der Rehzeit
Hier war sie
halb Engel halb Mensch-
die Mitte war Mutter
Als ich sie fragte was sie gern geworden wäre
sagte sie: eine Nachtigall
Jetzt ist sie eine Nachtigall
Nacht um Nacht höre ich sie
im Garten meines schlaflosen Traumes
Sie singt das Zion der Ahnen
sie singt das alte Österreich
sie singt die Berge und Buchenwälder
der Bukowina
Wiegenlieder
singt mir Nacht um Nacht
meine Nachtigall
im Garten meines schlaflosen Traumes
In ihren Gedichten und Texten verarbeitet Rose Ausländer die Verfolgung und Vernichtung ihrer Familie, des jüdischen Volkes, ihre Erfahrungen im Ghetto, Flucht, Exil und den Verlust der Heimat, der unbeschwerten und behüteten Kindheit, ja der Muttersprache selbst, denn diese war "zur Sprache der Mörder" geworden. Ihre Lyrik spricht über "Blutbuchen", über die Metamorphose der Nachtigall, die Todesmärsche, oder über die Buchenwälder der Bukowina.
Erst 1957, im Exil in den USA, konnte sie wieder Gedichte auf Deutsch verfassen, um gegen das Vergessen anzuschreiben. Auslöser dafür war u.a. auch ein erneutes Treffen im Exil mit dem Überlebenden Paul Celan, mit dem sie sich durch die gemeinsame Heimat und das gemeinsame Schicksal, das Trauma des Verlusts, eng verbunden fühlte und dem sie "In Memoriam" viele Gedichte widmete.
So sind auch all ihre Gedichte über die Sprache, das Wort, und das Dichten selbst als geistige Heimat und ihre Gedichte über die Liebe, über das Altwerden und über den Tod fest mit ihrer Biographie verwoben.
Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer
Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort.
Dieses und viele andere (nun vertonten) Gedichte laden dazu ein, die Lyrik der akribischen Poetin nicht nur les-, sondern auch erstmals hörbar erfühlbar zu machen. Darunter die "Grüne Mutter Bukowina", in der die Lyrikerin der verlorenen Heimat gedenkt, den vier Sprachen der Menschen, die sich hier einstmals verstanden haben, oder Erez Israel, dem sich die Zionistin ebenso verbunden fühlte.
In ihrem Gedicht "Jerusalem" erinnert sie sich an das Land, den Duft der Orangen:
Jerusalem
Wenn ich den blauweißen Schal
nach Osten hänge
schwingt Jerusalem herüber zu mir
mit Tempel und Hohelied
Ich bin fünftausend Jahre jung
Mein Schal
ist eine Schaukel
Wenn ich die Augen nach Osten
schließe
schwingt Jerusalem auf dem Hügel
fünftausend Jahre jung
herüber zu mir
im Orangenaroma
Altersgenossen
wir haben ein Spiel
in der Luft.
Rose Ausländers Gedanken, Gedichte, und Notizen vom verstummten Nachtigallgesang, der Auslöschung und Ermordung zeugen von der Herausforderung, durch Sprache das Unfassbare sichtbar zu machen. Sie ringt. Mit dem Namenlosen. Mit dem Trauma der Überlebenden. Der allein Zurückgebliebenen. Mit der Sehnsucht nach der Heimat, der Mutter, der "Nachtigall Mutter", dem "Zion der Ahnen", dem "Zion der im Garten meines schlaflosen Traumes".
So wie das "Buchenblatt" zu Rose Ausländer kam, um sie zu trösten, so ruft es auch die ZuhörerInnen dazu auf, nicht zu vergessen. Über die Metaphern "Duft" und "Rauch" erfahren wir hier direkt, durch die Dichterin selbst, vom Leben und Überleben, vom Sterben in den Ghettos oder Vernichtungslagern, über Paläste, bis hin zu "Israels Hora-tanzender Jugend" über den "Traum vom Frieden" der großen Dichterin, deren Worte berühren, und ihren Atem spüren lassen, über den sie so oft gedichtet hat: "Mein Atem heißt jetzt."
"Nein – ich vergesse nicht die eingebrannten Jahre." schreibt Rose Ausländer in ihrem Gedicht "Dennoch Rosen". Rose Ausländer, die mit Worten spielt und ringt, um das Unfassbare beschreibbar zu machen, die virtuos Wort um Wort reiht, ehrt die Toten in ihren Gedichten wie "Meine Toten schweigen tief".
Rose Ausländers Gedichte bezeugen eine ungeheure Wortgewalt der bildhaften Sprache, sind wohldurchdachtes, bis in jede Zeile perfektioniertes Handwerk – nicht selten überarbeitete sie ihre Lyrik, darunter Konvolute von Rohmaterial, mehr als fünfundzwanzig Mal und über einen Bearbeitungszeitraum von dreißig Jahren.
2018 jährt sich das Todesjahr der Dichterin zum dreißigsten Mal. In zweijähriger Arbeit wurde das Programm Rose Ausländer "Wirf Deine Angst in die Luft" - Lyrik und Musik – speziell für dieses Gedenkjahr – konzipiert.
Das Hörbuch ist eine Symbiose aus Lyrik und Musik. Die für dieses Projekt neu geschaffenen Kompositionen von Jan Rohlfing wurden eigens auf die Gedichte Rose Ausländers geschrieben und von einem renommierten Kammerorchester eingespielt. Vertont wurden die Texte von Cellistin Eva-Susanne Ruoff und Schauspielerin Alicia Fassel. Deren Lesung wird ergänzt durch seltene Original-Aufnahmen Rose Ausländers, die 1976 und 1977 in ihrem Zimmer im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf aufgenommen wurden.
Das Vorwort und die ausführliche Chronologie über Rose Ausländer wurden vom Vorsitzenden der Rose-Ausländer-Gesellschaft, dem Verleger und Publizisten, dem Weggefährten Helmut Braun, verfasst, der dieses Projekt auch begleitete. Foto-Aufnahmen von Rose Ausländer, auch ein Gemälde der Dichterin von Shlomo Lerner aus dem Jahr 1927 ergänzen das sorgfältig gestaltete Booklet.
Im Rose Ausländer Gedenkjahr 2018 soll dieses Hörbuch auch in Konzertform erlebbar gemacht werden. In der Kombination mit Kammerorchester wird die kleine Form der Lesung mit Musik aufgebrochen, Lyrik wird konzertant, in großen orchestralen Klangbildern erlebt. Die Musik greift die Inhalte und Stimmungen der Texte auf und verarbeitet sie bildhaft und atmosphärisch, dicht und intensiv.
Das Hörbuch wurde auf Platz 1 der hr2-Hörbuchbestenliste im Januar 2018 gewählt und ist nominiert für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik 01/2018.
Rose Ausländer, geboren am 11. Mai 1901 als Rosalie Beatrice Ruth Scherzer in Czernowitz, starb am 3. Januar 1988 in Düsseldorf. Ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof im Nordfriedhof in Düsseldorf.
AVIVA-Tipp: Rose Ausländers Lyrik ist unsterblich. Verbundenheit, Bekenntnisse und Zerrissenheit werden in jeder Zeile, in jedem Buchstaben und in jedem Satzzeichen sichtbar - Ausländer war nicht nur begnadete Lyrikerin sondern vor allem auch Perfektionistin. Dieses Hörbuch ist ein würdiger Rahmen, der der Dichterin Rose Ausländer gerecht wird und ihr sicher gefallen hätte. "Wer wird sich meiner erinnern wenn ich gehe?" fragt sie. Dieses Hörbuch und die zukünftigen Projekte des Ensembles tragen dazu bei, ihre Träume nicht "ins Nirgends" fallen zu lassen. Unbegreiflich und gleichzeitig schmerzhaft schön und berührend ist es, den Worten, Tönen und Gedanken dieses Hörbuchs zu Ehren Rose Ausländers zu lauschen. Traurig, nachdenklich lassen die Zeilen und die Töne zurück, die dazu auffordern, immer, und immer wieder gehört oder gelesen zu werden. Kein Vergessen. Niemals. Danke, Rose Ausländer.
Wirf deine Angst in die Luft
Die Poesie der Rose Ausländer
Gelesen von Alicia Fassel mit Original-Aufnahmen Rose Ausländers und mit Musik von Jan Rohlfing
Lesung, Original-Aufnahmen, Musik
20seitiges Booklet
1 CD, 62. Min. Spielzeit
19,80 Euro (D) / 20,00 (A) / 31,90 (CH)
ISBN 978-3-959980-19-7
Griot Hörbuch Verlag. VÖ: 09.10.2017
Mehr Informationen, eine Hörprobe, und Bestellung unter: griot-verlag.de
Weitere Informationen zu Rose Ausländer finden Sie unter:
Rose Ausländer Gesellschaft e.V.: www.roseauslaender-gesellschaft.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Helmut Braun - Rose Ausländer. Der Steinbruch der Wörter
Am 3. Januar 2018 jährte sich der Todestag von Rose Ausländer zum 30. Mal. Aus diesem Anlass erschien im Hentrich & Hentrich Verlag Berlin in der Reihe "Jüdische Miniaturen" eine kleine feine Biographie der deutsch-jüdischen Dichterin, die unverzichtbar ist für das Verständnis ihres Lebens und Werks. Biograph ist der Herausgeber, Verleger, Nachlassverwalter und Weggefährte von Rose Ausländer, Helmut Braun, der anlässlich ihres 20. Todestags im S. Fischer Verlag auch den von AVIVA-Berlin rezensierten Band "Gedichte, kleine Prosa und Materialien aus dem Nachlass" der am 11. Mai in Czernowitz/Bukowina geborenen Dichterin veröffentlicht hatte. (2018)
Der Traum lebt mein Leben zu Ende. Das Leben der Dichterin Rose Ausländer. Ein Dokumentarfilm von Katharina Schubert
Wer ist diese Frau, der nach dem Holocaust die Sprache zur einzigen Heimat wurde? Katharina Schubert begibt sich auf die Spuren des Lebens einer großen Dichterin und zeigt Bilder von heute, unterlegt mit Rose Ausländers (1901-1988) Lyrik. (2011)
Rose Ausländer – Deiner Stimme Schatten
Anlässlich ihres 20. Todestags am 3.1.2008 veröffentlicht der Herausgeber Helmut Braun im S. Fischer Verlag "Gedichte, kleine Prosa und Materialien aus dem Nachlass" der jüdisch-deutschen Dichterin. (2007)
Kristine von Soden - Und draußen weht ein fremder Wind .... Über die Meere ins Exil
Wie gelang den wenigen Überlebenden 1933 bis 1941 die Flucht ins Ungewisse, was ging dem Verlust um Heimat, Familie, Sprache und Kultur voraus? Im Zentrum dieses Buches steht der verzweifelte Kampf jüdischer Emigrantinnen um Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Gedichten sowie unveröffentlichten Bild- und Textdokumenten und literarischen Zeugnissen aus den im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main befindlichen Nachlässen jüdischer Emigrantinnen zeichnet die Autorin die dramatischen Umstände der individuellen Fluchtwege akribisch nach. (2017)