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AVIVA-BERLIN.de im Februar 2025 - Beitrag vom 04.02.2025


Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Lesung am 16. Februar 2025 in Oranienburg
Silvy Pommerenke

Der Roman- und Sachbuchautorin Regina Scheer ist in ihrer 2023 erschienenen Biographie der Kommunistin und Widerstandskämpferin Hertha Gordon-Walcher (1894 bis 1990) ein umfassendes Portrait gelungen, wofür sie mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Auch im Jahr 2025 ist das Buch immer noch lesenswert und hat nichts an Aktualität verloren.




Wahlverwandtschaft

Für Regina Scheer war Hertha Gordon-Walcher – die mit ihren Eltern befreundet war – so etwas wie eine innig geliebte Tante. Als sie 1990 starb, hinterließ ihr Ableben eine große Lücke bei Scheer: "Ihr Tod hat mich getroffen, und in den Jahren seitdem, inzwischen sind es Jahrzehnte, spürte ich immer wieder einen großen Verlust, der auch der Grund ist, warum ich das hier schreibe."

Entstanden ist das Buch durch unzählige Gespräche, die Regina Scheer nahezu wöchentlich mit ihrer "Tante" führte. Zwar hatte diese ihr untersagt die Gespräche per Tonband oder Notizen aufzuzeichnen (was aus ihrer Erfahrung in der Widerstandsbewegung herrührte), aber Scheer widersetzte sich dem und fertigte zu Hause Gedächtnisprotokolle und Notizen davon an.
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Tod Hertha Gordon-Walchers ist daraus eine unglaublich spannende Biographie und ein lebendiges Bild von Oral-History entstanden, das sich wie das Who´s Who der Aktivist:innen, Politiker:innen und Künstler:innen des 20. Jahrhunderts liest.

Politisierung

Hertha war ein außergewöhnliches Mädchen, ihrer Zeit weit voraus und schon früh politisch interessiert. Geboren 1894 in Königsberg in die fromme jüdische Familie Gordon, die immer von der Hand in den Mund lebte. Die Eltern polierten Bernstein, um für den kargen Lebensunterhalt zu sorgen. Unterstützung erhielt Hertha vom Rabbiner Hermann Vogelstein, der auch Hannah Arendt unterrichtete und ein Förderer der Sozialdemokratischen Partei war. Er bestärkte sie in ihrem Englisch-Unterricht und ihrem Wunsch, nach London zu gehen. Noch als Minderjährige wagte sie tatsächlich diesen Schritt - sehr zum Verdruss aber letztendlich mit Zustimmung ihrer Eltern – und reiste in die Hauptstadt Englands. Dort wurde sie politisiert und führte ein autonomes Leben. Aus Kostengründen zog sie in eine Wohngemeinschaft, wo sie mit einem schwulen Paar zusammenlebte.

Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs knüpfte sie Kontakt zu Clara Zetkin in Stuttgart und wurde Mitglied der Gruppe Internationale. Für Zetkin wurde sie fortan "so etwas wie ein Mädchen für alles, eine Schülerin, aber auch eine Vertraute". Später dann, bis 1925, ihre Privatsekretärin.
Mit 21 Jahren und gerade volljährig geworden – der Erste Weltkrieg tobte seit einem Jahr – "war sie allmählich eine in konspirativer Arbeit erfahrene Genossin geworden. Ihre Umwelt genau zu beobachten und dabei selbst unauffällig zu bleiben, sich jede Einzelheit einzuprägen und nicht unnötig darüber zu sprechen, war ihr zur zweiten Natur geworden."

Es folgte eine einjährige Internierung, da sie als Pazifistin und Aktivistin gegen den Krieg als "deutschfeindlich" betrachtet wurde, und im Anschluss - auf Vermittlung von Clara Zetkin - ein Treffen mit Lenin. Wladimir Iljitsch Lenin ist nur einer von zahlreichen berühmten Persönlichkeiten, auf die Hertha Gordon-Walcher im Laufe ihres turbulenten und politisch äußerst aktiven Lebens getroffen ist. Darunter auch: Rosa Luxemburg, Bertolt Brecht, Helene Weigel, John Heartfield, Käte Duncker, Herbert Frahm (alias Willy Brandt), Jeanne Stern, Christopher Isherwood, Elfriede Friedländer (alias Ruth Fischer), Benno Besson, Heiner Müller und viele, viele mehr. Mit einigen war sie Zeit ihres Lebens verbunden, und selbst noch in hohem Alter, als sie längst ihr Haus nicht mehr verließ, stand sie in regelmäßigem telefonischem oder brieflichem Kontakt mit ihnen.

Flucht und Exil

Das Leben von Hertha Gordon-Walcher als radikale Linke im Kampf gegen den Imperialismus und Faschismus war von permanenter Gefahr geprägt. Nicht nur einmal wurde sie inhaftiert, war immer wieder der Verfolgung ausgesetzt, konnte sich zwischendurch nur noch im Untergrund bewegen und stand laufend mit einem Bein im Knast. Immer an ihrer Seite war Jacob Walcher, ihr späterer Ehemann, der einer der Mitbegründer der KPD-O war, nachdem er 1928 aus der KPD ausgeschlossen wurde, und der für Willy Brandt wie ein Ziehvater war.
Den aufkommenden Nationalsozialismus blendete sie anfangs noch aus. Jüdin zu sein war für sie zwar immer selbstverständlich, aber sie glaubte, die Religion hinter sich gelassen zu haben und praktizierte sie nicht. Sie sah sich in erster Linie als Marxistin, die nichts weniger als die Weltrevolution anstrebte.
Erst 1933, in der Nacht des Reichstagsbrandes, ging sie in die Illegalität. Die SA war ihr bereits auf den Fersen. Sie floh erst in die Schweiz, dann nach Paris, und als die Deutschen Frankreich besetzten, gelang ihr die Flucht über Spanien und Portugal nach New York, wo sie ihre politischen Tätigkeiten fortsetzte. Nach Kriegsende siedelte sie wieder um nach Deutschland, in die sowjetische Zone. Aber auch hier verlief ihr Leben nicht unkompliziert. Sie wurde als Feindin der Arbeiterklasse betrachtet, denn man hatte - wegen ihrer früheren Tätigkeit in der KPO und der SAP - Befürchtungen vor einer Oppositionsbildung. Dafür drohte man ihr zwischendurch mit Ausweisung aus Berlin und unterzog sie ständigen Überprüfungen durch die Bezirksleitung der SED. Was folgte, war der Ausschluss aus der Partei. Nichtsdestotrotz hat sie sich nicht davon abhalten lassen, bis zu ihrem Lebensende politisch aktiv zu sein.

Kulturgeschichte

Regina Scheer hat dieses ungewöhnliche Leben spannungsreich und bildgewaltig in Szene gesetzt. Dabei sind nicht nur die Entwicklungen und internen Konflikte der kommunistischen und sozialistischen Parteien nachgezeichnet, sondern die Leser:in erfährt auch einiges über die Kulturgeschichte dieser Zeit. So war Hertha Gordon-Walcher beispielsweise 1928 bei der aufsehenerregenden Premiere der Dreigroschenoper im Berliner Theater am Schiffbauerdamm, besuchte das Avantgardetheater der Piscator-Bühne am Nollendorfplatz in Berlin (dem heutigen Metropol bzw. Goya), sah Helene Weigel – ebenfalls in Berlin - in der Volksbühne, hörte einen Vortrag von Thomas Mann in den USA oder besuchte eine Veranstaltung in der Carnegie Hall von Bertolt Brecht.
Selbst die Wohnungswahl von Hertha erzählt etwas über Architekturgeschichte: sie zog 1930 mit ihrem Lebensgefährten Jacob Walcher in die Weiße Stadt im Berliner Ortsteil Reinickendorf. Heute gehört diese Siedlung zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Beeindruckend ist auch, wie Regina Scheer aus ihren Gedächtnis-Protokollen diesen Text erarbeitet hat. Nicht nur, dass sie die selten zusammenhängenden Erzählungen und einzelnen Episoden von Hertha Gordon-Walcher in einen Guss bringt, sondern auch, dass sie die Biographie immer wieder auflockert, indem sie (nachgestellte) Dialoge von den beiden wiedergibt und eigene Fragen, die nicht in Gänze beantwortet werden können, in den Text einflicht. Ein Meisterwerk eines Puzzles, was sie da zusammengesetzt hat.

AVIVA-Tipp: Regina Scheers Biographie über Hertha Gordon-Walcher ist ungemein lebendig und aufschlussreich geschrieben. Das siebenhundert Seiten starke Buch liest sich für ein Sachbuch ausgesprochen flüssig – was an dem narrativen Stil liegt – und spannend, wie ein historischer Roman. Er ist ein umfassendes Portrait des linken und kommunistischen Widerstands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des antifaschistischen Kampfes und der Emigration in der Nazi-Zeit, die Erfahrungen im Exil sowie die Anfangsjahre der DDR aus weiblicher Sicht. Die einflussreichen und berühmten Persönlichkeiten, mit denen Hertha Gordon-Walcher politisch oder auch privat verbunden waren, ergeben ein fast lückenloses Lexikon des kommunistischen Spektrums der damaligen Zeit. Immer wieder scheint die Bewunderung Scheers für ihre "Wahltante" durch, für die sie liebevolle, empathische und bisweilen auch nachsichtige Worte findet. Wie gut, dass sich Regina Scheer 30 Jahre nach den Gesprächen mit Hertha Gordon-Walcher entschlossen hat, ihre Notizen von damals aufzubereiten und ihr ein literarisches Denkmal zu setzen!

Regina Scheer: geboren 1950 in Ost-Berlin, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 bis 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift "Forum". Danach war sie freie Autorin und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift "Temperamente". Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, u.a. "Im Schatten der Sterne" (2004). Ihre ersten beiden Romane, "Machandel" (2014) und "Gott wohnt im Wedding" (2019), waren große Publikumserfolge. Ihr Buch "Bittere Brunnen" wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. (Quelle: Verlagsinformationen)

Regina Scheer
Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution

Penguin Verlag, erschienen 04/2023
Gebundenes Buch, 704 Seiten, mit Bildteil
ISBN 978-3-328-60208-8
Euro 30,00
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.penguin.de

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Beitrag vom 04.02.2025

Silvy Pommerenke