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Beitrag vom 07.03.2023
Rebecca Donner - Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler
Ahima Beerlage
Rebecca Donner ist sechzehn Jahre alt, als ihre Großmutter ihr die Briefe ihrer Urgroßtante Mildred Harnack überlässt, der Amerikanerin und Widerstandskämpferin, deren Hinrichtung Hitler persönlich forderte. 2021 veröffentlicht Rebecca Donner die Biografie der Literaturwissenschaftlerin, die …
… mit ihrem Mann Arvid Harnack in Berlin einen Widerstandskreis leitete und das Netzwerk knüpfte, das die Nationalsozialisten später als "Rote Kapelle" verfolgen und zerschlagen sollten. Zum 120. Geburtstag von Mildred Harnack veröffentlicht es der Berliner Kanon Verlag in der Übersetzung von Laura Su Bischoff, Erich Ammereller und Sabine Franke.
Keine leichte Kindheit in Wisconsin
Mildred Fish wächst als jüngstes von vier Kindern in Wisconsin auf. Als Mildred vierzehn ist, verlässt die Mutter den Vater, der die Familie immer wieder in finanzielle Not gebracht hat. Mildreds Mutter drängt darauf, dass Mildred eine gute Ausbildung bekommt. Sie nimmt ihr Studium der Literaturwissenschaften an der Universität von Wisconsin auf, wo sie den deutschen Studenten Arvid Harnack kennenlernt. Der Rechtswissenschaftler und Student der Philosophie hat sich in ihren Hörsaal verlaufen, als die Masterstudentin gerade einen Vortrag über amerikanische Literatur hält.
Mildred und Arvid: Auf einer Wellenlänge
Sie diskutieren über politische Konzepte, Literatur und Philosophie. Schnell wird aus Zuneigung Liebe. Sie heiraten bereits nach einem halben Jahr. Arvid kehrt nach Deutschland zurück, um zu promovieren. wenig später folgt ihm Mildred nach Berlin, wo sie zunächst an der Abendschule Literatur unterrichtet, bis sie einen Lehrauftrag an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin bekommt. Das Paar lebt und arbeitet in ihrer Wohnung an der Hasenheide, als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen.
Machtergreifung: Nach dem Schock folgt der Widerstand
Für das linksorientierte Paar ist dies ein Schock. Mildred versammelt Oppositionelle verschiedener Richtungen – Sozialdemokrat*innen, Kommunist*innen und Gewerkschafter*innnen – in ihrem ´Gesprächskreis´. Da bereits unmittelbar nach der Machtergreifung die deutsche Gesellschaft zersetzt ist von Mitlaufenden, Denunziant*innen und glühenden Anhänger*innen der Nazi-Partei, muss die Gruppe sehr vorsichtig sein, wen sie anspricht und wie sie sich austauschen. Mit subtilen Fragen, Flüstern und vorsichtigen Gesten erweitern sie stetig den Kreis der Opposition. Dazu gehören ‚Fabrikarbeiter und Schriftsteller, Anwälte und Professoren. Es sind Juden, Katholiken, Protestanten und Atheisten schreibt Rebecca Donner. Sie eint der Widerstand gegen die Naziherrschaft.
Alarmierende Vorzeichen
Arvid unterdessen infiltriert ein Zentrum der Macht. Getarnt als überzeugter Nazi heuert er im Wirtschaftsministerium an. Während die USA und die Sowjetunion und andere Staaten Hitler verharmlosen, findet Arvid immer mehr Beweise, dass der Diktator einen Angriffskrieg plant. Er und Mildred sind entschlossen, den potentiellen Zielen Hitlers diese Informationen zukommen zu lassen. Russland will ihn als Spion verpflichten, aber Arvid besteht darauf, als Deutscher weiter unabhängig Widerstand zu leisten und sich nicht mit einem Eid an die Sowjetunion zu binden. Gleichzeitig versorgt Mildred über ihre Kontakte die amerikanische Botschaft mit Informationen.
Enttarnung und Verhaftung
Durch einen unvorsichtigen Funkspruch, in dem unverschlüsselt Adressen von Widerstandskämpfer*innen gesendet werden, kommt die Gestapo auf die Spur der Gruppen. Da der Funkspruch durch die Sowjets erfolgte, gibt die Gestapo der Gruppe den Namen ´Rote Kapelle´. Als sie genug Mitglieder enttarnt haben, verhaften sie mehr als einhundert Männer und Frauen, unter ihnen Mildred und Arvid Harnack, die nach Haft und Folter hingerichtet werden. Besonders tragisch: Im ersten Prozess wurde Mildred zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Hitler persönlich ließ das Urteil aufheben und verlangte die Todesstrafe für die ihm so verhasste Frau.
Bis an die Schmerzgrenze nahe
Rebecca Donner folgt in ihrer Biografie aber nicht nur der Spur Mildred Harnacks, sondern auch der Geschichte des Jungen Don. Der Sohn des amerikanischen Botschafters und Freund der Harnacks, hat hochgefährliche Informationen von Mildred zu seinem Vater getragen. Und darin liegt die Stärke dieses Buchs. Immer wieder wechselt Rebecca Donner die Perspektive, nimmt sich den Raum, ins Detail der Zeit zu gehen. So schildert sie ein Spaziergang durch den Tiergarten. "Ein Netzwerk aus Wegen, manche unbefestigt, manche asphaltiert und manche mit Kopfsteinen gepflastert, zieht sich schneebetäubt durch die Grünanlagen. Doch die Schönheit ist versehrt. Hakenkreuze sind auf Laternenpfosten geschmiert und in Baumrinden oder auf Latten von Holzbänken geritzt." Das Buch fesselt gerade durch diese Nähe und lässt die Lesenden nicht mehr los – bis an die Schmerzgrenze.
Aus der Versenkung ins richtige Licht gerückt
Nach dem Krieg und im folgenden Kalten Krieg wurden die Mitglieder der "Roten Kapelle", ein von den Nazis geprägter Begriff, von den beiden ideologischen Blöcken missbraucht. In den USA wurden sie als Kommunisten verdammt und ihre Zusammenarbeit mit der amerikanischen Botschaft verschwiegen. In der DDR und Sowjetunion wurden sie als kommunistische Widerstandskämpfer glorifiziert. In Westdeutschland, in der schnell Nationalsozialisten wieder in führenden Ämtern von Justiz und Politik saßen, wurde der Widerstand verharmlost oder geleugnet. Die Todesurteile wurden teilweise sogar rechtlich anerkannt, den Hinterbliebenen wird jede Unterstützung oder gar Anerkennung ihrer Angehörigen verweigert. Jüdischer, linker und auch christlicher Widerstand passt nicht zur Geschichtsschreibung der neuen alten Deutschen und zur Wahrnehmung der Siegermächte, die die Deutschen pauschal in der Schuld sahen, ihre Opfer als mutlos. Umso wertvoller ist Rebecca Donners Biografie über ihre Urgroßtante, die sich aus Zivilcourage und politischer Überzeugung gewehrt hat.
AVIVA-Tipp: Frauen im Widerstand gegen Hitler und die Nazipartei waren lange kein Thema. Während Judy Batalion die Geschichte jüdischer Widerstandskämpferinnen wieder aus dem Schweigen befreit, rückt Rebecca Donner mit der Geschichte ihrer Urgroßtante Mildred Harnack und des "Gesprächskreises" die Bemühungen des Widerstandsnetzwerkes in Berlin ins verdiente richtige Licht. Spannend und informativ geschrieben, können die Lesenden sowohl die mitlaufende Mehrheit erkennen, als auch den Mut derjenigen Minderheit nachvollziehen, die ihre Überzeugung über ihre Angst und Sicherheit gestellt haben. Die soziale, religiöse und politische Diversität dieses Widerstandes ist dabei besonders bemerkenswert.
Zur Autorin: Rebecca Donner wurde in Kanada geboren. Sie wuchs in Japan und den USA auf und hat an der Universität in Berkley in Kalifornien und an der Columbia Universität studiert. Nach einigen Essays und Graphic Novels hat sie über mehrere Jahre zur Biografie Mildred Harnacks recherchiert, die sie 2021 unter dem Titel "All the Frequent Troubles of Our Days" bei Little, Brown and Company veröffentlicht. 2022 erhält sie dafür zahlreiche Preise, darunter den National Book Critics Circle Award for Biography und den PEN/Jaqueline Bograd Award for Biography. Der Kanon Verlag veröffentlicht es in der Übersetzung von Laura Su Bischoff, Erich Ammereller und Sabine Franke im September 2022.
Mehr Infos: twitter.com/RRRDonner
Zu den Übersetzer*innen: Laura Su Bischoff übersetzt seit 2014 Literatur aus dem Englischen. Erich Ammereller arbeitet seit 2012 als freier Übersetzer. Sabine Franke ist Lektorin und hat Sachbücher und Literatur aus dem Englischen übersetzt.
Rebecca Donner
Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler
Originaltitel: All the Frequent Troubles of Our Days, Little, Brown and Company, New York, 2021
Deutsche Erstausgabe. Kanon Verlag Berlin GmbH, erschienen 2022
616 Seiten zzgl. 8-seitiger Bildteil, s/w, Gebunden mit SU
ISBN 978-3-98568-047-4
€ 36,00 (D) / € 37,10 (A)
Auch als E-Book erhältlich
Mehr zum Buch unter: kanon-verlag.de
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Judy Batalion - Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen
Die jüdisch-kanadische Historikerin und Comedienne stieß 2007 in der British Library auf ein verstaubtes Buch auf Jiddisch. "Freuen in di Ghettos" über die "Ghetto-Girls". Für Judy Batalion war das der Auslöser, sich näher mit der Geschichte und dem Schicksal der jüdischen Widerstandskämpferinnen in Polen zu befassen. Der Titel der englischen Originalausgabe: "The Light of Days. The Untold Story of Women Resistance Fighters in Hitler´s Ghettos". (2021)