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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 18.05.2020


Barbara Beuys – Asta Nielsen. Filmgenie und Neue Frau
Bärbel Gerdes

Asta Nielsen gilt als Weltstar des Stummfilms. In ihren Rollen verkörperte sie den Typus einer Neuen Frau – selbstbestimmt, erotisch, unabhängig. Auch in ihrem Leben waren Freiheit und Unabhängigkeit wichtige Themen, deren Bedeutung sie in ihren Erinnerungen hervorhob, indem sie Ehemänner und ihre Tochter schlicht nicht erwähnte. Die Biographin Barbara Beuys hat sich die Quellen genauer angesehen.




In ihrer großartigen Poetik der Biographie schluckt Angela Steidele schwer, als ein Leser ihr mitteilt, er läse keine Romane, denn er wolle sichergehen, dass auch stimmt, was er da lese.
Was ist Wahrheit, was ist Fiktion in einer Biographie? Was ist falsche Erinnerung, was absichtlich falsch "Erinnertes", um das eigene Leben aufzuhübschen?

Auch Barbara Beuys, die Biographin der Malerin Helene Schjerfbeck, der Künstlerin Maria Sibylla Merian und der preußischen Königin Sophie Charlotte, steht diesen Fragen gegenüber – und einmal mehr, wenn es um Asta Nielsen geht. Denn diese schrieb Autobiographien, in denen Auslassungen sie anders erscheinen lassen als sie war. So muss Beuys das machen, was bereits Virginia Woolf beschrieb: gemeinsam mit der zu Biographierenden muss die Biographin austüfteln, was sich bei einer bestimmten Gelegenheit tatsächlich ereignet hat.

Um dies zu tun, muss sich die Lebensbeschreiberin tief in Quellen und Archive versenken, muss ausbuddeln, Krusten entfernen und das Darunterliegende zutage fördern. Doch darf sie dies mit allen Mitteln?
Ethik und Biographie – darüber nachzudenken, verwindet das Gehirn und die eigenen Moralvorstellungen. Was ist erlaubt? Zahlreich sind die Aufforderungen berühmter KünstlerInnen, nach ihrem Tod Tagebücher, Briefe, Notizen zu vernichten, um sie gerade nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie viel wäre uns entgangen, hätten sich alle daran gehalten… Wir erinnern uns, wie die Jagd auf die Frau, die hinter dem Pseudonym Elena Ferrante steht, unsägliche und übergriffige Ausmaße annahm, bis es einem Journalisten letztlich gelang, die Grenze der Autorin zu verletzen und sie zu outen. Ferrante wollte gerade nicht als Person sprechen, sondern nur durch ihre Romane.

Doch was macht die Biographin mit dem unglaublichen Vertrauensbruch, der Asta Nielsen widerfuhr? 1955 lernte die Vierundsiebzigjährige den <>Kopenhagener Antiquar Frede Schmidt kennen. Stets beobachtete Nielsen misstrauisch die Menschen daraufhin, ob sie sie aufgrund ihrer Berühmtheit ausnutzen wollten. Schmidt vertraute sie. Er versorgte sie mit Büchern, brachte ihr Kleinigkeiten zum Essen und telefonierte fast täglich mit ihr. In diesen sehr vertraulichen Gesprächen gab Nielsen viel von ihrem Leben preis – sie erzählte von ihrer Tochter, von ihren Ehen und von kritische[n] Geschichten aus ihrer Filmkarriere.
Was sie im Traum nicht ahnen konnte, schreibt Beuys, Frede Schmidt hat von 1956 bis 1959 diese Telefongespräche heimlich mitgeschnitten. Fast einhundert Bänder fand man nach seinem Tod. In Dänemark entbrannte eine heiße Diskussion darüber, ob daraus zitiert werden dürfe. 2016 erschien schließlich das Buch Astas Skygge von Eva Tind, in dem große Teile der Gespräche abgedruckt sind.
Vieles im Leben Asta Nielsens kann dadurch anders bewertet werden. Durch die Diskrepanz zwischen den Gesprächen und ihren veröffentlichten Erinnerungen wird deutlich, wie sie war und wie sie gesehen werden wollte.

Asta Nielsen kam am 11. September 1881 in Vesterbro, Kopenhagen, in einem ärmlichen ArbeiterInnenviertel zur Welt, lebte aber teilweise in Schweden, so dass sie zweisprachig aufwuchs. Ihre vier Jahre ältere Schwester Johanne sollte zeitlebens ihre engste Verbündete sein. Dies bewies sich bereits 1899. Schon die dreizehnjährige Asta hatte Theaterluft geschnuppert, nachdem sie im Chor des Det Kongelige Teater ein- und aufgetreten war. Als sie schließlich ein Stück von Ibsen sah, stand ihr Entschluss, Schauspielerin zu werden, fest. Ihre Mutter, eine sehr widersprüchliche Person, war nicht begeistert. Die Frau, die ihre Töchter gnadenlos mit einer Reitpeitsche traktierte, um dann wieder Lyrik zu rezitieren und Liedgut zum Besten zu geben, ließ sich erst umstimmen, nachdem Johanne zugesichert hatte, ihr gesamtes Gehalt zu Hause abzugeben und auch Asta einen Nebenverdienst in Aussicht stellte.
Bereits auf der Schauspielschule lernt sie die später sehr berühmte Clara Pontoppida kennen, mit der sie zeitlebens befreundet sein wird. Innige Freundschaften spielen in Nielsens Leben eine große Rolle. Eine der Intensivsten unterhält sie zu Joachim Ringelnatz.
1901 verschwindet Nielsen für einige Zeit. In der Königlichen Geburtsstiftung wird sie von einem Mädchen entbunden. Es ist dieselbe Institution, in der auch Astrid Lindgren ihren Sohn zur Welt brachte. Asta Nielsen verheimlicht das Kind vor ihrer Familie und gibt es in die Obhut eines Kinderheims. Als sie dort jedoch vier Wochen später zurückkehrt, ist sie entsetzt über den Zustand der Tochter und vertraut sich ihrer Mutter und ihrer Tochter an. Trotz aller Strenge ist es für Nielsens Mutter selbstverständlich, das Kind zu sich zu holen, so dass Jesta bei ihrer Tante und Großmutter aufwächst, jedoch immer auch bei Asta Nielsen lebt. Barbara Beuys nennt die Entscheidung für ein uneheliches Kind ein Schlüsselerlebnis: Ihr Nein zu einer Heirat, die die Schande, ein uneheliches Kind zu haben, ausgelöscht hätte, bedeutete für Asta Nielsen die Entscheidung für ein unabhängiges, selbständiges Leben.

Nielsen tritt derweil im Theater auf. 1909 tritt der Regisseur Urban Gad in ihr Leben. Filmangebote lehnt sie ab, doch als Gad ihr ein Jahr später ein Filmmanuskript vorlegt, ist sie begeistert. Erst vierzehn Jahre war es her, dass die Brüder Max und Emil Skladanowsky im Kopenhagener Tivoli ihre Laufenden Bilder vorführten. Im November 1895 hatte ihre Erfindung, das Bioskop, Premiere im Berliner Winterpalast gehabt, während die Brüder Lumière im Dezember desselben Jahres in Paris ebenfalls bewegte Bilder zeigten.
Die Filme wurden zunächst auf Jahrmärkten und in Zelten vorgeführt, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schossen in Europas Städten Kinos [wie Pilze] aus den Boden. Zu dieser Zeit betrug die Dauer der Filme jedoch höchstens 15 Minuten. Aus technischen Gründen durfte der Zelluloidstreifen nicht länger als 300 Meter sein. Filminhalte waren dann auch nur Cowboyszenen, Schlachten mit Sahnetorten und ähnliches. Erst 1910 gelang dem Unternehmen Fotorama eine Neuerung. Erstmals wurde ein 35minütiger Film gezeigt.

Das Drehbuch von Urban Gad sah eine Filmdauer von 45 Minuten vor und war damit der dritte Langfilm überhaupt. "Afgrunden" ("Der Abgrund") erzählt von der Klavierlehrerin Magda (Nielsens Tochter Jesta ist als Schülerin zu sehen), die einen Pfarrerssohn heiraten soll, dann jedoch von einem Zirkuscowboy äußerst gerne entführt wird. Statt Pfarrhaus soll es die Freiheit des Zirkus für sie geben. Doch der soziale Abstieg folgt, der Cowboy geht fremd und Magda ersticht ihn. Nicht nur wegen der Abschlussszene ist der Film bemerkenswert – hier verlässt eine Täterin die Szene, die am Ende kein Opfer sein will, schreibt Beuys - , sondern auch wegen des Gaucho-Tanzes. Dieser äußerst erotische und gewagte Tanz, bei dem Nielsen den Cowboy mit einem Lasso fesselt und ihn umkreist, gefährdete den ganzen Film. Ich wusste noch nicht, dass das mir fremde Filmfach Zurückhaltung verlangte, erinnert sich Asta Nielsen. Und so legte ich alles, was ich an Sehnsucht, enttäuschter Liebe und brennender Leidenschaft besaß, in mein rhythmisches Unterfangen. Tatsächlich wurde diese Szene in Norwegen aus dem Film geschnitten. Doch die Presse insgesamt war begeistert, die Menschen stürmten die Kinos – der Film wurde ein Wendepunkt in Asta Nielsens Leben.

Die Schauspielerin macht international Karriere. Paris, Zürich, Rom, Amsterdam, Stockholm und Warschau stehen auf dem Reiseplan. Sie heiratet Urban Gad – doch wie auch die folgenden Ehemänner kommt dieser (und auch ihre Tochter) in ihren autobiographischen Schriften als Ehemann nicht vor. Sie erwähnt sie als Regisseure oder Schauspielkollegen - mehr nicht. So entsteht der Eindruck, sie unternähme Reisen alleine, wohne alleine, ginge alleine auf Tournee.
1911 unterzeichnet sie gemeinsam mit Gad einen Vertrag mit der Internationalen Film-Vertriebsgesellschaft, der die beiden verpflichtet, bis 1914 jährlich acht Filme zu veröffentlichen, ein riesiges Arbeitspensum.
Sensationelle Szenen locken die BesucherInnen in die Kinos – und auch die Zensur. In dem Film Im großen Augenblick gibt es die Horrorszene eines brennenden Schlosses, die gestrichen werden sollte. Es kam nicht dazu, doch die Verhandlungen darüber waren die beste Werbung.

In ihren Rollen prügelt sie sich und geht den Männern an den Kragen. Es sind selbstbewusste und zielstrebige Frauen, die sie darstellt. Eine Frau, die den gängigen Klischees und Konventionen nicht entspricht und mit dem sich das weibliche Publikum identifiziert.

Asta Nielsen gelangt zu großem Wohlstand. Für ihre oft kranke Schwester Johanne, die mit ihrer Lebensgefährtin Isi Andersen zusammenlebt, bestreitet sie den Lebensunterhalt.

1929 kauft sie sich auf Hiddensee ihr Haus Karusel, ein Rückzugsort, in dem sie FreundInnen empfängt und entspannen kann. Doch 1929 ist auch das Jahr des Tonfilms. "Hier in Berlin hat ein Ausländer überhaupt keine Chance. Stumme Filme werden kaum noch produziert und alles ist überlaufen", schreibt Nielsen in einem Brief. Ihr einziger Tonfilm entstand 1932.

Unter den Menschen, mit denen sie zusammenarbeitet und mit denen sie befreundet ist, befinden sich viele deutsche Jüdinnen und Juden und Regisseure wie Richard Oswald, der sich in seinen Filmen gegen die Strafbarkeit von Abtreibung und Homosexualität einsetzte. Es sind die Menschen, die wenige Jahre später von den Nationalsozialisten verfolgt werden sollten.

Andererseits will sich das Propagandaministerium der Nazis Nielsen zunutze machen. Im März 1933 wird sie dort zum Tee geladen. Joseph Goebbels und Adolf Hitler sind zugegen. In ihren Erinnerungen berichtet sie, wie Hitler um sie warb. Es käme jetzt die Zeit, wo große KünstlerInnen für die Filme gebraucht würden, umgarnte er sie. Sie entgegnete, das beträfe sie nicht, sie würde sich niemals für politische Filme hergeben. Goebbels bot ihr eine eigene Filmgesellschaft an – sie sagte ab. Barbara Beuys betont, dass diese Gespräche unter vier Augen stattfanden, niemand könne sie also bestätigen oder in Zweifel ziehen.
Kurzzeitig schwankt sie – jedoch nur in ihrem privaten Kreis, alles Menschen, die den Nationalsozialisten feindlich gegenüber stehen.
Sie spielt weiter Theater, kehrt aber 1937 nach Dänemark zurück, wo sie 1939 nach mehr als dreißig Jahren wieder auf der Bühne steht.
Bereits 1945 erscheint der erste Teil ihrer Autobiographie.
1968 produzierte sie einen autobiographischen Dokumentarfilm. Nach ihrer Filmkarriere widmete sie sich mit großem Erfolg der Stoffmalerei und heiratete dann noch einmal – mit 88.
Asta Nielsen starb am 24. Mai 1972 in Frederiksberg.

AVIVA-Tipp Barbara Beuys Biographie porträtiert mit Asta Nielsen eine bemerkenswerte Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Dabei rückt sie die Un- und Halbwahrheiten in den Selbstdarstellungen Nielsens behutsam zurecht, ohne die großartige Schauspielerin und ihre unglaubliche Karriere zu beschädigen.

Zur Autorin: Barbara Beuys wurde 1943 in Wernigerode geboren. In Köln studierte sie Geschichte, Philosophie und Soziologie und promovierte im Fach Geschichte. Sie arbeitete als Journalistin beim Kölner Stadtanzeiger und beim Stern, anschließend als Redakteurin bei Merian und der Zeit. Beuys schrieb unzählige Biographien über Frauen, darunter Annette von Droste-Hülshoff, Hildegard von Bingen, Paula Modersohn-Becker, und die umfassendste Biographie über Sophie Scholl, sowie das Buch "Die neuen Frauen. Revolution im Kaiserreich 1900-1914". Zusätzlich porträtierte sie Städte, Zeitalter und Kulturformen und schrieb Sachbücher über Malerei, Musik und Literatur. 2017 wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet. Barbara Beuys lebt in Köln.

Barbara Beuys
Asta Nielsen – Filmgenie und Neue Frau

Insel Verlag, erschienen am 23. März 2020
447 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 978-3-458-17841-5
25,00 €
Mehr zum Buch: www.suhrkamp.de

Eine Filmographie ist online unter: www.imdb.com

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Beitrag vom 18.05.2020

Bärbel Gerdes