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Beitrag vom 04.11.2003
Caramelo
Jana Scheerer
Sandra Cisneros gilt als die Stimme der Frauen mit mexikanischem Hintergrund in den USA: Der Chicanas. In ihrem neuen Roman flicht sie ein kunstvolles Gewebe aus Geschichten zwischen zwei Welten
"Caramelo" heißt das Muster eines geflochtenen mexikanischen Tuchs, eines "Rebozos." Der Rebozo ist unvollendet und so kunstvoll angelegt, dass niemand ihn wirklich zu Ende bringen kann. Mit dieser Metapher hält Sandra Cisneros die Geschichten in ihrem Buch zusammen, die oft wie lose Enden verebben oder erst sehr viel später wieder aufgenommen werden.
"Die Wahrheit ist: Diese Geschichte besteht nur aus Geschichten, aus losen Fäden, Flicken, die hie und da entdeckt und zusammengenäht wurden zu etwas Neuem. Was ich nicht wusste, habe ich erfunden, und was ich wusste, habe ich übertrieben", schreibt die Autorin in ihrem Vorwort und macht so gleich die Programmatik des Buches klar: Es geht nicht um die authentische Wiedergabe einer Familiengeschichte, sondern um den Vorgang der Erinnerung, der nun mal nicht gradlinig und logisch, sondern verworren und bruchstückhaft funktioniert.
Zugleich gelingt es der Autorin durch dieses Verfahren, etwas über das Wesen von Familienerinnerungen deutlich zu machen: Sie verselbstständigen sich, verlieren manchmal ihren ursprünglichen Kontext und werden zu Sagen, die Familienkonstellationen verfestigen und Identitäten stiften.
Sandra Cisneros ist - wie ihre Protagonistin Celaya Reyes - als einzige Tochter von sieben Kindern einer mexikanischen Familie in Chicago aufgewachsen. Die Autorin schildert sich selbst als schüchternes Mädchen, das sich in der amerikanischen Gesellschaft als unvollkommen und unpassend wahrnahm. Dieses Gefühl hielt auch während ihrer Universitätsausbildung - Englisch und Kreatives Schreiben- bis sie ihre literarische Stimme gerade in ihrer Chicana-Identität fand. In ihrem ersten Erfolg "The House on Mango Street" schilderte Sandra Cisneros so auch in Kurzgeschichten das Leben einer jungen Frau mit mexikanisch-amerikanischem Hintergrund in einem Barrio in Chicago.
Die Geschichte des Mädchens Celaya Reyes, das mit seinen Eltern in den USA lebt und jeden Sommer zu den Großeltern nach Mexiko reist, ist gespickt von Anekdoten aus dem Leben der Großeltern und der restlichen Verwandtschaft. Doch gerade im Wust dieser miteinander verstrickten Geschichten gibt es Momente, die sich als besonders bedeutungsvoll herausheben und fast den atemlosen Erzählfluss für einen Moment anzuhalten scheinen. Das geschieht, wenn die kleine Celaya mit allen Sinnen die Ankunft in Mexiko spürt: Die schärferen Gerüche, die bunteren Farben und die lauteren Stimmen.
Gerne folgt man der Autorin auf den verworrenen Wegen der Familie Reyes - und ist doch manchmal kurz davor, den Faden zu verlieren. Vielleicht ist das der Preis dieses kunstvollen Verfahrens: Die Leserin immer wieder fallen zu lassen, wenn es gerade wirklich spannend zu werden verspricht, um einen anderen Faden aufzunehmen. So erfordert dieser zerstreute Text beim Lesen eine gewisse Konzentration, die sich jedoch, besonders im zweiten Teil des Buches, mehr als lohnt.
Der AVIVA-Tipp: Dieses Buch ist mehr als gute Handarbeit!
Sandra Cisneros
Caramelo
Deutsch von Sibylle Schmidt
Goldmann, August 2003
ISBN 3-442-31028-8
23,90 Euro200868017575" target="_blank">