Wie ein zu spät gekommener Gast - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 20.10.2003


Wie ein zu spät gekommener Gast
Kirsten Eisenberg

Protagonistin Fanny reflektiert in Nummer sechs von Véronique Olmi über eine schwierige, distanzierte Vater-Tochter-Beziehung einer zuletzt Geborenen




Wer ist dieser Doktor Delbast, Fanny´s Vater? Ein herrschsüchtiger, prinzipiengesteuerter Mann, ein Ignorant, der sich den Namen der eigenen Tochter nicht merken konnte, oder ein vom Krieg Gebrochener, ein Musiker, ein zärtlicher Ehemann?
Und wer ist sie selbst für ihn gewesen? Wirklich nur die "Nummer sechs" in der Reihe der Geschwister, die Unerwünschte, die, bei der man auf eine Fehlgeburt hoffte?

"Der Mann meines Lebens bist Du", sagt Fanny, denn die nun 50jährige hat ihr Leben bereitwillig dem pflegebedürftigen Vater gewidmet. Und hofft, durch die Nähe im Alter endlich die Wunden eines von Enttäuschung und Zurückweisung geprägten Verhältnisses heilen zu können.

"Louise ist hübsch. Marie ist intelligent. Und was bleibt mir?" Schon als Kind entgeht keines der Familienmitglieder Fannys analytischem Blick, während sie selbst für die anderen immer nur ein unscheinbarer Schatten, ein ungebetener Gast im Familienkreis bleibt. Wieder und wieder versucht sie, die Aufmerksamkeit des Vaters zu gewinnen, immer wieder wird sie bitter enttäuscht, bis sich eine ungeheuer starke Hassliebe auf diesen Monsieur Delbast entwickelt, der seinen Stolz lieber unter den Söhne aufteilt.

Die Protagonistin versucht, sich selbst in Kindertagen durch die Augen ihres Vaters zu sehen, um endlich verstehen und Frieden schließen zu können. Ein innerer Zwang scheint sie anzutreiben, sich quälend immerfort in einem inneren Zwiegespräch neue Fragen zu stellen und die unüberwindliche Barriere zwischen zwei verwandten und dennoch voneinander getrennten Menschen einzureißen.

So verlangt Fanny, als die Geschwister die Sachen des kranken Vaters unter sich aufteilen, nichts außer seiner Briefe. Auf dem toten Papier endlich findet sie seine lebendige Gedankenwelt und die Nähe, die ihr im Alltagsleben stets verwehrt blieben.

Es sind flüchtige, schlichte Sätze, aneinandergereiht und immer wieder mit Fragen unterbrochen, mit der Véronique Olmi das stumme, suchende Umherschweifen der Gedanken ihrer Protagonistin gelungen vermittelt.
Deren Erinnerungsskizzen blitzen wie verstaubte Familienfotografien vorm inneren Auge der Leserin auf. So beschreibt die Autorin sehr gut das vorsichtige Abtasten, mit dem Fanny in die Kindheit hineintaucht um das Jetzt verstehen zu können.

Mit 99 Seiten ist "Nummer sechs" zweifelsohne ein kurzer Roman. Dafür ist jeder der schlichten Sätze gewichtig und erschütternd. Ein Buch, das zum Nachdenken über die eigene, oft heikle Beziehung zur Vaterfigur provoziert.


Véronique Olmi, die 1962 in Nizza geboren wurde, ist eine der bekanntesten jungen Theaterautorinnen Frankreichs. Bekannt wurde sie durch ihren ersten Roman "Meeresrand", der zur Zeit verfilmt und für die Bühne bearbeitet wird.




Véronique Olmi
Nummer sechs

Aus dem Französischen von Sigrid Vagt
Verlag Antje Kunstmann, 2003
99 Seiten, gebunden
ISBN: 3-88898-338-4
14,90 €90008115&artiId=2349752&nav=5081"



Literatur

Beitrag vom 20.10.2003

AVIVA-Redaktion