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Beitrag vom 17.03.2006
Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen
Sarah Ross
Bevor Mirjam Bolle die Niederlande verlassen und ihrem Verlobten nach Palästina folgen konnte, besetzten die Nazis das Land. Sie begann heimlich die Geschehnisse für ihren Geliebten aufzuschreiben.
Fast 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind erneut schriftliche Zeugnisse aus der Zeit des Naziterrors aufgetaucht, die von der Verfolgung der Juden in den Niederlanden berichten. Auch dieses Mal liegt dieser sensationelle Fund in Form von Tagebuchbriefen vor - ähnlich wie bei dem berühmten Tagebuch der Anne Frank. Doch hier hat nicht eine dritte Person die Briefe veröffentlicht, sondern die Autorin selbst. Mirjam Bolle publiziert in ihrem Buch "Ich weiß, diese Briefe werden dich nie erreichen. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen" all die Schreiben, die sie seit 1943 für ihren Verlobten in Palästina verfasste. Briefe, die sie selbst Jahrzehnte lang vergessen hatte. Dieses Buch ist nicht nur eine beeindruckende Chronik der Judenverfolgung in den Niederlanden, sondern auch der einzig bekannte Bericht über die teilweise umstrittene Institution des Amsterdamer "Joodse Raad". Mirjam Bolle, geborene Levie, war derzeit Mitarbeiterin des Jüdischen Rates. Nun sind die Briefe, die bis zur Veröffentlichung ungelesen blieben, im Eichbornverlag auch in deutscher Sprache erschienen.
Miriam Levie ist bereits seit fünf Jahren von ihrem Verlobten Leo Bolle getrennt, der 1938 nach Palästina fliehen konnte, als sie 1943 beginnt, Briefe an ihn in ihr Tagebuch zu schreiben - denn schicken konnte sie ihm die Nachrichten schon lange nicht mehr. Auch sie selbst hatte bereits ein Visum beantragt und war im Begriff, Leo zu folgen, doch dann erreichte der Zweite Weltkrieg am 10. Mai 1940 auch die Niederlande und deutsche Truppen besetzten das Land. Auch die Verfolgung der niederländischen Juden begann bald darauf und an eine Ausreise war nicht mehr zu denken. Alles, was Mirjam blieb, war die Hoffnung, den Krieg zu überleben und Leo Bolle in Palästina wieder in die Arme schließen zu können. Mirjam war damals erst 23 Jahre alt.
Alles was die junge Frau, die 1917 in Amsterdam in eine religiös-zionistische Familie hineingeboren wurde und seit 1941 als Sekretärin im "Joodse Raad" arbeitete, in ihr Tagebuch schrieb, sollte als Gedächtnisstütze dienen - für später, wenn sie Leo wieder sehen sollte. In ihren heimlichen Briefen an den Verlobten berichtet sie von all dem, was seit Beginn der Besatzung in Amsterdam geschehen war, was sie gerade erlebte und was noch folgen sollte. Eigentlich hatte sie beabsichtigt, mit ihren niedergeschriebenen Beobachtungen einen nüchternen Bericht über die Geschehnisse zu hinterlassen, jedoch lassen allein schon die Aufzählungen der Tatsachen beim Lesen eine beängstigende Atmosphäre aufkommen. Und obwohl die Autorin nur selten ihrer Verzweiflung und Angst Ausdruck verleiht, bekommt man einen Eindruck von der anschwellenden Verzweiflung der jüdischen Bevölkerung in Amsterdam.
Und so berichtet sie häufig mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und dann doch wieder zurückhaltend und nach anfänglicher Schonung oft erschüttert darüber, wie sich die Schlinge um die holländischen Juden immer enger zuzog. Aber auch darüber, wie sie derzeit die vielen Hausdurchsuchungen und die unzähligen schrecklichen menschlichen Tragödien erlebte, und dass es vereinzelt bizarre Glücksmomente und heroische Taten der Amsterdamer Bevölkerung gegeben hat, ist in ihren Briefen eindrucksvoll niedergelegt. So bilden beispielsweise die kleinen Anekdoten über die Polizei, die hinters Licht geführt worden ist, oder den florierenden Schwarzhandel und die mutigen Widerstandsaktionen einen beinahe heiteren Kontrast zu ihren Erlebnissen bei der Deportation 1943 nach Westerbork, zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester Bobby, und ihrer Zeit dort sowie im KZ Bergen-Belsen.
Von außerordentlichem Wert sind jedoch ihre Beschreibungen über ihre Stelle beim Jüdischen Rat in Amsterdam, der von den Besatzern 1942 eingerichtet wurde und für alle jüdischen Angelegenheiten zuständig war. Täglich erlebte Mirjam Bolle hier die verzweifelten Versuche, das Leben der Mitbürger zu schützen, und wie der Rat schließlich immer mehr zum Handlanger der Deutschen degradiert wurde. Mit ihren einzigartigen Beschreibungen der Interna und der zunehmenden Anspannung innerhalb der Institution, liefert Bolle vor allem der Wissenschaft eine auch eine wertvolle Quelle und ein bestürzendes Zeugnis der menschenverachtenden Strategie der Nazis: "Die Deutschen haben überall in den von ihnen besetzten Gebieten dieselbe Politik betrieben...Überall fanden sich Menschen, die ihnen geholfen haben, weil sie keine andere Wahl hatten. Aber die Leute vom jüdischen Rat hofften, noch etwas retten zu können."
Die Briefe aus der Zeit in Amsterdam ließ Mirjam Bolle in einem Schwimmbeutel in der ehemaligen Firma ihres Vaters zurück. Durch einen Schwager gelangten sie schließlich nach dem Krieg nach Palästina. Doch auch in Westerbork und später in Bergen-Belsen notierte sie die schrecklichen Erlebnisse. All ihre Briefe zeigen, dass Mirjam trotz der oft ausweglos erscheinenden Situation die Hoffnung und selbst den Humor nie verlor: "Realistisch gedacht, hätte ich sagen müssen, wir sind verloren. Aber das liegt wahrscheinlich in der menschlichen Natur, die Hoffnung nie sterben zu lassen." Nur weil sie auf einer so genannten Palästina-Liste standen, konnte die Familie Levie mit dem einzigen Gefangenenaustauschzug, der Bergen-Belsen je verließ, 1944 nach Haifa ausreisen. Ihre Aufzeichnungen schmuggelte sie aus dem Lager mit in die Freiheit und nach sechseinhalb Jahren der Trennung und der Ungewissheit fanden Mirjam und Leo Bolle zueinander.
Erst nachdem sie vor einigen Jahren für einen Dokumentarfilm über die Zeit der Besatzung interviewt wurde, erinnerte sie sich wieder an die lange vergessenen Briefe, die viele Jahre lang unbemerkt in einem Schrank in ihrer Wohnung in Jerusalem lagen. Mirjam Bolle schickte die Aufzeichnungen dem niederländischen Historiker Johannes Houwink ten Cate, der ihr dabei verhalf, sie als Buch herauszubringen.
AVIVA-Tipp: Mirjam Bolles Buch "Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen" ist ein weiteres wertvolles Zeugnis dessen, was während der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten in den Niederlanden geschah. Ein sensationeller Fund auch deshalb, weil die Aufzeichnungen vor allem als eine wissenschaftliche Quelle über die Tätigkeit des lange umstrittenen "Joodse Raad" in Amsterdam herangezogen werden können. Doch was dieses Werk, bzw. die Briefe von Mirjam Bolle an ihren Verlobten in Palästina so einzigartig macht, ist zum einen die Unmittelbarkeit der Darstellung und zum anderen auch hier die Geschichte hinter dem Buch. Die Autorin, die auch als eine "Chronistin mit scharfem Blick und großem Einfühlungsvermögen" bezeichnet, hatte diese Briefe einst schlichtweg vergessen. Heute können wir von Glück reden, dass das Schicksal sie wieder ans Tageslicht zurückgeführt hat.
Zur Autorin:
Mirjam Bolle, geboren 1917, lebte in Amsterdam, bis der Jüdische Rat den Befehl zur Selbstauflösung erhielt. Sie versteckte ihre Briefe und wurde nach Westerbork und später nach Bergen-Belsen deportiert. Dort schrieb sie weiter und notierte das Unglaubliche, das sie erlebte. 1944 konnte sie mit dem einzigen Gefangenenaustauschzug, der Bergen-Belsen je verließ, nach Palästina ausreisen - ihre Aufzeichnungen aus dem Lager schmuggelte sie mit in die Freiheit. Dort heiratete sie ihren Verlobten. Erst 2003 wurden ihre Tagebuchbriefe von einem niederländischen Historiker entdeckt und von ihr zum Druck freigegeben.
Das Buch wird derzeit auch ins Französische, Norwegische, Dänische und Schwedische übersetzt.
Mirjam Bolle
Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen
Tagebuchbriefe der Mirjam Bolle aus Amsterdam, Westerbork und Bergen - Belsen.
Deutsch von Stefan Häring und Verena Kiefer
Eichborn Verlag, März 2006
ISBN 3821857684
298 Seiten, gebunden
22,90 Euro90008115&artiId=5178657"