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Beitrag vom 07.03.2006
Die Welt der namenlosen Dinge. Von Daniela Rossi
Sabine Grunwald
Eine Mutter kämpft verzweifelt darum, ihrem schwerhörigen Sohn die Bitterkeit einer Ausgrenzung zu ersparen, die das Schicksal der Gehörlosen in der Welt der Hörenden zu sein scheint.
Daniela ist sechsunddreißig Jahre alt, als ihr Wunschkind Andrea auf die Welt kommt.
Ein ganzes Jahr lang lebt sie unbeschwert mit dem kleinen Sohn zusammen, ohne zu merken, dass zwischen ihm und seiner Umgebung eine gläserne Wand gezogen scheint. Es ist schwer festzustellen, dass mit dem Kleinen etwas nicht stimmt. Er reagiert lächelnd auf die Zärtlichkeitsbeweise seiner Mutter und ist ein aufgewecktes und fröhliches Kind. Die ersten Zweifel kommen auf, als die erst sieben Monate alte Tochter einer Freundin in der Lage ist, auf ihren Namen zu reagieren.
"Er weiß noch nicht, dass er Andrea heißt, bemerkte ich lachend und verglich die Reaktion des Mädchens mit der Langsamkeit und dem Zögern, an die ich von dir gewöhnt war. Dann aber krabbelten wir mit euch vergnügt auf dem Boden herum, und ihr wart so komisch, so fröhlich, so gleich."
Doch allmählich wird der Mutter bewusst, dass Andrea nicht auf Worte reagiert.
Er erweist sich als geschickt, geduldig und konzentriert, baut Türme und macht Schubladen auf und zu, doch Worte nimmt er nicht wahr. Auf Eindrücke optischer Art spricht er an, das Kind kann bereits die Buchstaben des Alphabets in ein Kästchen einordnen, aber Laute kann er sich weder merken noch nachahmen. Allmählich kommt der Verdacht der Taubheit auf. Der Kinderarzt zerstreut alle Bedenken, da der Kleine auf den Hörtest reagiert. Verwandte und FreundInnen betrachten ihn als Spätzünder, fangen doch manche Kinder erst mit vier Jahren an zu sprechen.
Ein anerkannter Mailänder HNO-Arzt stellt die Diagnose "vollständige Taubheit" und empfiehlt, Andrea ein Cochlea-Implantat, eine künstliche Gehörschnecke, einzusetzen.
Bei den so operierten PatientInnen tritt hinter dem Ohr ein kleiner Plastikschlauch aus, der mit einer am Hals befestigten Schachtel verbunden ist. Der Arzt rät dazu, das Kind mit lauten Geräuschen zu beschallen , bis in zwei bis drei Monaten die Operation durchgeführt werden kann.
Daniela ist ratlos und verzweifelt, die kalte und nüchterne Reaktion der ÄrztInnen, die in ihrem Jungen nur einen Fall sehen, macht sie wütend. Sie gibt dem Ratschlag, dem Kind die Gebärdensprache beizubringen, nicht nach, da dies Isolation und den beschränkten Umgang mit "Seinesgleichen" bedeuten würde.
Die Mutter erfindet Spiele, um ihm beizubringen, Laute zu verbinden, zu unterscheiden und zu ordnen.
Weitere ÄrztInnen werden konsultiert, bis ein Genfer Arzt feststellt, dass die Taubheit nicht so gravierend ist, um eine künstliche Gehörschnecke zu implantieren.
Daniela entdeckt die erbitterten Kämpfe unter den unterschiedlichen Schulen und VerfechterInnen von gegensätzlichen Methoden. Gebärden- gegen Lautsprache.
Einige hoffen auf die Stammzellenforschung, andere lehnen jede technische Unterstützung ab.
"Ein gehörloses Kind kann das Recht auf ein erfülltes Leben haben oder aber dessen beraubt werden, je nachdem, ob der Zufall die Eltern zu einem einfühlsamen Arzt führt, oder zu einem von denen, die keine Skrupel kennen."
Eine große Verbesserung sind die federleichten und hochsensiblen Im-Ohr-Hörgeräte, die ein Ingenieur entwickelt hat. Mit ihnen kann Andrea endlich Stimmen und Geräusche in der richtigen Lautstärke wahrnehmen.
"Erst mit zweieinhalb Jahren und nach unzähligen Versuchen antwortest du zum ersten Mal eindeutig auf eine verbale Frage.... Du kannst Formen und Dimensionen zuordnen, und zeigst gute logische Fähigkeiten, hast aber fast kein Interesse am Zuhören."
Weitere Fortschritte macht der Kleine bei einer Musiktherapeutin. Mit sechs Jahren ist er ein aufgewecktes, liebevolles Kind, das viele SpielkameradInnen hat. Mit sieben setzt er sich freiwillig vor einen Spiegel, um seine Aussprache zu verbessern und ist vom Telefon fasziniert, das er bisher nur mit Argwohn betrachtete. Eine gute Logopädin, bei der er unterrichtet wird, erkennt seine emotionale Gesundheit und fördert ihn nach Kräften.
AVIVA-Tipp: Das Buch ist eine Liebeserklärung Danielas an ihren Sohn Andrea. Berührend und warmherzig zeigt es den Kampf gegen eine überhebliche und gefühlskalte Umwelt, die nur den Patienten, nicht aber den Menschen wahrnimmt. Durch den unerschütterlichen Glauben an die Gaben und Fähigkeiten ihres Kindes, sicherte sie für ihn seine Unbefangenheit und Fröhlichkeit.
Zur Autorin:
Daniela Rossi ist Psychologin, Malerin und Bildhauerin. Sie hat als Journalistin für Tageszeitungen und Zeitschriften gearbeitet und Kinderbücher illustriert. "Die Welt der namenlosen Dinge" ist ihr erstes Buch.
Daniela Rossi
Die Welt der namenlosen Dinge
Originaltitel: Il mondo delle cose senza nome.
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann
Antje Kunstmann Verlag, erschienen März 2006
Gebunden, 141 Seiten
ISBN 3-88897-407-0
14,90 Euro90008115&artiId=5203787"